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Titel
Merlot
Der Text
Es ist ein alter Merlot.
Jahrgang 1994
der Hagel hatte den Hang verfehlt
sonst alles getroffen
kostbar, weil der Einzige am Hang
wurde er auf Flaschen gezogen
heute, 2006 hole ich ihn hervor.

Entschuldigend drehe ich den Korkenzieher
in seinen Hals
es floppt ein echter portugieser Kork
ich schnüffele am Kork
und dann am Hals
ist nichts Verdächtiges, was ich reklamieren könnte
beim inzwischen verstorbenen Hersteller.

Er duftet mich an
umspielt die üppigen Nasenhaare
und signalisiert puren Genuss
ich fülle das bauchige Glas zu dreiviertel
und begebe mich zur Liege am Teich
neben mir schnappt der Koi nach trockenem Futter
und ich nach dem Glas.

Die ersten Vorkoster liegen schon drin
auf dem Weg zum Teich
steuerten sie das Rote im Glas an
und waren nach wenigen Zügen besoffen
spreizten ihre winzigen Flügelchen und schwammen
im kostbaren Trunk.

So eine Obstfliegenleber hält eben nichts aus
hätte sofortiges Flugverbot von mir bekommen
rette die Bande und streife sie aufs Blatt neben mir
morgen sollten sie ihren Rausch ausgeschlafen haben.

Beim Schreiben dieses Artikels aber
die Augen auf dem Blatt Papier
treibt schon der nächste Besucher
Kopf unter mit hilflosen Schwüngen
und zieht zur Probe tief ein -
eine Ameise auf Spättour
die anderen schon im Stamm einer Tanne verschwunden
ein wenig grätzig hole ich auch sie da raus
habe Übung.

Darf ich auch mal?!

Will den Jahrgang auf meiner Zunge
und nicht auf Rettungsinseln spüren
der erste Schluck!

Köstliches Rot trifft sich mit Geschmacksnerven
Fliegen werden verdrängt
ans Jahr ´94 gedacht
ach ja, ´94!

Greife erneut zwecks Erinnerungsvermögensbildung zum Kelch
nicht ohne vorher noch eine Blattlaus
und zwei mir unbekannte Falterarten zu retten
sie kommen in den Ausnüchterungsbusch neben der Liege
habe ich ´ne Einladung geschrieben?
eine Spätwespe umkreist das Gesöff
du nun nicht auch noch!

Ich wedele sie weg
was sagen die anderen, wenn sie mit einer Merlotfahne
ins abendliche Nest kommt?

Der Koi schwimmt auffällig in meiner Nähe
können Kois riechen?
durchs Wasser?
Merlot?

Gebe ihm einen Schluck ab
auf 8x8 m ein Witz
trübt noch nicht einmal
ist sofort vom Teich verschluckt
ich gieße nach
´94

Damals am See
hatten auch Wein dabei
große Kanister, da ja so praktisch
war eine feucht warme Nacht
Britta, nee Lisa, nee
war spät geworden
hatten mich liegen gelassen am Wasser
keiner hat was gesagt
mein Schlaf war ordinär tief.

Hole drei Selbstmörder per Finger von der Fläche
sie sind halbtot
selbst Schuld
ich hasse abgedeckte Weingläser
stillos
die Sonne verabschiedet sich
rechts vom Teich
links das Glas
nicht einmal wenn ich es beobachte
fliegt etwas hinein
sie machen es heimlich
neben meinem Ellenbogen
Plötzlich:
Die erste Fledermaus!
Gott sei Dank nicht im Glas
man stelle sich die Flecken im Frack vor!
Skandal!
Sie arbeitet mit Echolot
"sieht" den Merlot
kennt den Jahrgang
weiß alles
geht regelmäßig zum HNO
lässt sich durchchecken
spitzzahnig, lautlos, flatterhaft
greift sich alles, was nachts durch den Garten torkelt

schütte nach
denke über Fledermäuse und meinen Rückweg zum Haus nach
entwickele Feindbilder
schaffe Friedensengel
das letzte Glas zerperlt auf der blauen Zunge
eisbärenartig
Zirruswolken am Julihimmel über Bremen
Zirrus im Kopf.

Es muss einen Grund geben, denke ich mir
weshalb dieser Hang vom Hagel verschont blieb
das Traubige vom Gären überzeugt
einer Horde Falter zum Verhängnis wurde
und ihren Retter jetzt
leicht federnden Schrittes zur Schlafstätte führt.

Was für ein Sommer
was für ein Jahrgang!
Typ
Gedicht
Autor
Burkhard Jysch
Buck Jysch
Veröffentlichung erlaubt (nach Rücksprache)