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Titel
Die Lok
Der Text
Die ersten Erinnerungen an sie stammen aus der Frühzeit weihnachtlich glänzender Herrlichkeit. Sie war Spielzeug aus Holz, und wurde von mir ausführlich beschrieben. An sie musste ich mich eines sommerlichen Tages erinnern, als ich auf einem Rundtrip durch den englischen Nordosten Yorkshires unterwegs war, und auf der Route keinesfalls den Ausgangs Bahnhof an einer der ersten Bahnlinien der Welt überhaupt verpassen wollte. Man sah es schon der eingleisigen Strecke an, dass sie die Last vieler Jahre zu tragen hatte. Auch wenn der Blick nur bis zur ersten Kurve reichte, zeigten die eigentlich parallel laufenden Schienen doch eine gewisse Nachlässigkeit, was dem menschlichen Auge sofort auffiel. Wie viel Schweiß wohl per Handarbeit in ihre Verlegung investiert wurde, und was würden wohl die Männer dazu sagen, die seinerzeit mit Blut und Schweiß die schweren Schienen verlegten?

Am Bahnhof Pickering waren die Schranken längst geschlossen, und hielten den Durchgangsverkehr pflichtbewusst zurück. Viele beugten sich darüber mit ihren Kameras, um die ersten Bilder zu schießen. An diesem Staub heißen Sommertag lag etwas in der Luft. Etwas das nach Schmieröl, Ruß, Schottergestein, und alles zusammen zu einem Gemisch wurde, das der Erscheinung quasi voraus lief wie ein ungeduldiger Hund auf einer Wanderung.

Sie ließ sich Zeit, die alte Dame, um die eineinhalb stündige Fahrt über 25 Meilen hinter sich zu bringen. Hier gab es keinen wichtigen Fahrplan, auf den jemand Wert gelegt hätte, hier begnügte man sich mit dem Glück sie überhaupt zu erleben. Ihre Route war zur Beförderung von Kohle ausgelegt, da den üblicherweise eingesetzten Pferden es immer wieder schwerfiel, sich in dem hügeligen Gelände vorwärts zu bewegen. Vorbei an jenem Panorama aus Heide und Himmel, schnell Licht wechselnden Wolkenzügen, und teilnahmslos dahin kauenden Schafen, die wie Tupfer in der grasgrünen Landschaft eine der wenigen Abwechslungen boten. Aus den Reisebeschreibungen erfuhr man Wissenswertes über diese Pioniertat englischer Entwickler, die die Dampfkraft perfekt nutzten, um die begehrte Kohle von hier zu den Häfen wie Whitby an der Ostküste zu bringen. Ihre Rettung verdankte sie der North Yorkshire Moor Railway Company, die sie betrieb und Spenden sammelte, und sie quasi unter Naturschutz stellte.

Das Wissen um ihre Pflege, ihre Handhabung und alles was damit zusammen hing, wurde von Generation zu Generation weiter gegeben, da in England sowieso nichts gänzlich verschwindet, und die Vergangenheit auf so viele Art erhalten bleibt.

Es tat sich etwas unter der antiken Bahnhofsuhr. Als sich der erste durchdringende Pfeifton um die Kurve mühte, und sein Echo von den Hängen Unruhe in die Menschenmasse brachte. Wer eine Dampflok von Bildern her kannte, der hatte ganz bestimmte Vorstellungen, was jetzt um die Kurve kommen würde. Kein Bild aber ersetzte dann die Wirklichkeit. Nicht das Schnaufen und hastige Ausatmen eines greisen Körpers im pechschwarzem Mantel, aus dem sich jene grau weißen Dampfwolken formten, die die gesamte Erscheinung noch vergrößerten. Als würde sie sich darüber beschweren über jene, die es wagten ihr noch immer solch Lasten aufzubürden, um sie völlig nutzlos zum Transport Neugieriger zu missbrauchen. Und das ihr, nach all den mühevollen Jahren nicht die verdiente Ruhe gegönnt sei. Sie hingen mit den Köpfen aus den Holzfenstern der Waggons, winkten den Wartenden zu, und waren schnell zu einer Masse aus Menschen verschmolzen, die sie gebührend empfingen. Alles bei einem lang gezogenen "Gekrächze" und "Quietsch" mit letztem "Schnauf". Aus dem rußgeschwärzten Gesicht des Heizers, der neben dem Lokführer einen Moment die Schaufel beiseite stellen konnte, las ich etwas zwischen Müh´ und Zufriedenheit, vielleicht auch Stolz.

Und als wäre die Zeit tatsächlich stehen geblieben, schaute ich auf die Bahnhofsuhr, und sah mich bestätigt. Sie hatte den Tag verschlafen.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein