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Titel
Die Gottesanbeterin
Der Text
Ich entdeckte sie, als sich auf der Lehne meines Armstuhls direkt am Meer plötzlich etwas Bewegung einstellte, das ich aus den Augenwinkeln wahrnahm. Es sah eher wie einer der Holzspähne aus, die sich manchmal aus dem echten Holz lösen. Das grünbraune kleine Gebilde schien unschlüssig zu sein, ob es vorwärts schreiten sollte, oder es sich noch einmal überlegte damit zu warten. Sein Bleistiftminen dünner Körper schwang vor und zurück. Auf was wartete es, wen "fixierte" die Gottesanbeterin mit ihren furchterregenden dreieckigen Augen, die ich einmal in einer Vergrößerung sah? Ich rührte mich nicht, und ließ meinen Arm wo er war, um sie nicht zu verjagen. Sie hatte die Größe des Gliedes meines kleinen Fingers, die beiden Zangenfänge bizarr nach vorn gerichtet gleich neben ihrem Kopd, und schien in größter Anspannung trotz demonstrativer Gelassenheit. Vielleicht hatte sie Hunger, und tagsüber keinen Erfolg mit ihrer Jagd gehabt, als ich am Ende der Lehne ein Insekt im untergehenden Licht der Abendsonne wahrnahm. Auf dem warmen Holz hatte es sich gemütlich eingerichtet, und schaute wie ich aufs Meer hinaus. Dieses hatte sich beruhigt, und nur noch schwache Wellen spülten an den Sandstrand. Von beiden Lebewesen war ich nur wenig entfernt, und dachte über meine Rolle als Richter nach, dem ein Todesurteil zur Unterschrift vorgelegt wurde. Was, wenn ich eines davon mit einer Handbewegung entweder das Mahl verderben würde, dem anderen dadurch das Leben rettete?

Ich blieb äußerlich ruhig, innerlich aber war ich in ähnlicher Anspannung wie die Jägerin zur Abendstunde, hatte keinen Blick mehr für den atemberaubenden Sonnenuntergang, der sein Licht als letzte Gabe übers Wasser verteilte, und es noch einmal aufglühen ließ. Die Nacht würde das Schicksal eines heißen Tages besiegeln. Während meines Gedankenganges, was den Fortgang dieser entscheidenden Minuten auf der Armlehne anlangte, hatte sich die Situation zugespitzt. Anstatt der zwei gewöhnlichen vorwärts gerichteten Bewegungen waren es drei, bei jeweils einer Rückwärtsbewegung. Sie verkürzte also die Entfernung zu ihrer Beute, die sich der Gefahr überhaupt nicht bewusst war, und mich vielleicht sogar als Schutz betrachtete.

Als die Sonnenscheibe auf dem Horizont aufsetzte, war die Zeit des Tages abgelaufen, wie die Zeit des Insekts vorn auf der Lehne. Den eigentlichen Zangenangriff konnte ich gar nicht so schnell verfolgen. In ihren krallen bewehrten Armen hielt sie ihre Beute, die sie keineswegs tötete. Stattdessen begann sie sogleich mit dem Fressen, als hätte sie fürs Töten keine Zeit zu verschwenden, oder Angst, dass man ihr die Beute nahm.

Als ich mich erhob, um zur Hütte zurück zu gehen, ließ ich den Armstuhl allein im Sand. Den Schauplatz fürs kleine Schicksal auf der Armlehne mit großem Orchester draußen auf dem Meer.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein