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Titel
Die Kneipe
Der Text
Sie lag etwas abseits der durchströmten Gasse, die durch Hinweise in Katalogen als sehenswert bezeichnet genau das Gegenteil davon erfuhr. Man sah den Kopf des Vordermanns, hörte das Geschrei der genervten Kinder, und konnte gar nicht anders, als dem Strom zu folgen wie ein abgerissener Baumstamm, der vom Wasser dahin getrieben wurde. Sie war die Idee eines etwas Verrückten, der das alte Haus für einen viel zu hohen Preis erstand, wie die Leute sagten, und die Genehmigung durch die Stadt für einen Ausschank dem glücklichen Zufall verdankte, dass der Referatsleiter in der Schulklasse neben eben diesem Antragsteller saß, und von ihm richtige Antworten abschreiben durfte.

Ihre Ausstattung entsprang einer Idee, die nur zwei Farben zuließ: Schwarz und Rot. Einzig der große Aschenbecher aus Kristallglas durfte sich eine Farbabweichung erlauben. Eine schwarz bemalten Decke hielt die zahlreichen Ofenrohre, die dort aufgehängt jeweils punktuell genau ausgerichtet Licht auf die runden kleinen Tische warf. Die Holztheke aus Schwarzkiefer wurde von Punktstrahlern erhellt, während auf jedem der Tische eine einzige Rose in Samtrot ihren Blick in die Runde werfen konnte. Eine Runde aus eifrig miteinander diskutierenden Männern und Frauen, die hier laut ihre Meinungen austauschten, während sie ganz nebenbei gespendete, gesalzene Erdnüsse knabberten. Kostenfrei deshalb, weil der Dicke, wie er genannt wurde, bald herausfand, dass Durst den Appetit auf Bier gewaltig steigerte.Er und seine Crew waren Augen, Finger und Füße, das Haus die Seele.

Wer die Kneipe zu späterer Stunde betrat, geriet in einen Schwall von Worten, von denen jedes meinte etwas Besonderes zu sein, ein Star, der am Tisch kurz aufleuchtete, und wenn es das Glück wollte, von allen am Tisch mit einem Nicken bestätigt wurde. Hier gab es die Schwätzer, die alles besser wussten, die Schweiger, die wussten, dass es nicht so war, und jene Augen hübscher Frauen, die sich noch nicht sicher waren, mit wem sie heute den Tisch verlassen würden. Heller Rauch durchzog alles, heftete sich an Jacken, Mäntel und Hosen, und machte später die Frage nach dem Verbleib am Abend daheim überflüssig.

Der Dicke begrüßte jeden Neuankömmling am Tisch per Handschlag. Nur einmal am Abend. Er konnte sich Gesichter merken und die Anzahl der Getränke, die noch offen standen bevor sich der vergessliche Gast an der Tür zu schaffen machte. Dann, wenn alle die Kneipe verlassen hatten, war nur noch kalter Rauch zahlloser Kippen aus den überfüllten Kristallaschenbechern die knackenden Schalen der Erdnüsse am Boden, die mittlerweile müden Rosenköpfe, denen das Leben hier zugemutet wurde, waren die abgegriffenen Geldscheine, die darauf warteten gezählt zu werden, die noch immer im Raum stehenden ungelösten Probleme dieser Welt zwischen Ihm und Ihr.

Der Dicke fürchtete sich vor dem letzten Tag, an dem er als Letzter für immer gehen würde, was doch unmöglich war, was gegen die Natur war, seine Natur. Würde er es wagen sich noch einmal umzuschauen nach ein paar Metern und lauschen, ob er die richtige Entscheidung nicht doch noch umkehrbar machen sollte? Sprach das alte Haus nur für ihn hörbar, und war es nicht ein Zeichen der Trauer, wenn die Scheiben, hinter denen sich ganze Geschichten abspielten beschlagen waren? Er war sich unschlüssig über die Antworten, es war noch Zeit, wie er immer sagte.

Viele Jahre später, nach dem der Rauch verzogen, die Rosen verblüht, die Menschen in manchen Erinnerungen nochmal herein kamen durch die hölzerne Tür, stand ich an selber Stelle wieder davor. Und nur die große Denkmal geschützte Kastanie daneben hätte ich als einzige fragen können nach ihrem Verbleib, denn es war nichts mehr, wie es war.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein