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Titel
Die Laufmasche
Der Text
Beim Beobachten von Menschen fällt einem auf: Jeder läuft anders. Daraus Schlüsse zu ziehen, zu erkennen, wer da auf einen zu kommt, machte sich schon der Propagandaminister Göbbels zunutze, der seinen Schreibtisch aus ganz bestimmter Absicht ins hintere Reich seines Amtszimmers stellen ließ, um so den Ankömmling einzuschätzen.

Dieser offenbarte ungewollt Geheimnisse, von denen der Herr Minister schon wusste, bevor er sein Anliegen vortrug. Die Körpersprache eines chinesischen Polizisten erkannte ich auch ohne Anlauf, und dass er mich nicht verstehen wollte auch. Auf die einfache Frage nach einer Sehenswürdigkeit reagierte er so, als gäbe es ein Staatsgeheimnis zu verbergen. Sein Blick ist für mich unvergesslich.

Es gibt Lehrer, die betreten das Klassenzimmer, und glauben schon die Noten derjenigen zu erahnen, noch bevor die Aufgabe gestellt wird. Mit diesen Wahrsagern hatte ich zeitlebens zu tun.
Wer aber geht wie?

Da ist der Latino, der im Wiegeschritt zum Dienstbeginn zum Chefpult der Flugsicherung pegelt, nur um zu erfahren, dass er erst morgen erwartet wird. Mist. Er verlässt den Ort der Niederlage im Slowfox. Andere, längst erwartete kommen erst später. Mit gesengtem Haupt, den Stau noch im entschuldigendem Blick sind schon längst eingeplant, und schreiten zur Ablösung in Demutshaltung wie der letzte Husky, der das Startsignal verpennt hat.

Der Walzerkönig zum Beispiel hat im Spiel 77 das erste Mal Erfolg gehabt und überlegt, wie er seine 7 Euro 77 anlegen soll, ob er sie riestert oder dem Moloch Girokonto in den Rachen wirft.
Als ein Reporter Claudia Kode Kilsch befragte, wann sie das Gefühl hatte gegen Steffi Graf zu verlieren im Match sagte sie:
"Als sie auf den Platz kam!" Äußerungen dieser Art zeigen, dass ein gewisses Auftreten durchaus einen Sieg im Köcher haben kann.

Im Tangoschritt beobachtet werden Ladendiebe, welchen mit einer sanften Umarmung Scheckkarten nur so zu fließen. Die Rumba muss für Härtefälle herhalten.

Die Laufmasche ist überall. Seit Einführung der Seidenstrümpfe, die jene selbst gestrickten Erotikvernichter vom Markt nahmen, ist sie auch gezielt gewollt. Welcher Mann kann sich seiner Forschungsniedertracht erwehren, um heraus zu finden, wo sie denn geblieben ist, die Masche? Ganze Expeditionen werden in Marsch gesetzt, um sie wieder zu finden. Zeugen schweigen weiblicherseits aus diffusen Gründen.

Beim Bewältigen der Wahrheit krabbelt sich der zur Reue bereite Sünder an die Holzkabine in einer kalten Kirche, um Vergebung zu finden. Auf dem Weg zur Sonnenbank geht das schon flotter, wobei die Wahrheit danach hautmäßig auf der Strecke bleibt.

Wir alle sind uns unsrer Gangart nicht im mindesten bewusst, weil wir auf die der anderen achten. Geben aber selbst die Signale und wundern uns, warum wir den Job nicht bekommen nach dem Vorstellungsgespräch, oder beim geliebten Gegner am heimischen Tisch die Schultern zu gebeugt halten. Eine Angriffsfläche für jeden Herausforderer.

Wer am Morgen schon aufsteht und sich sagt, Scheiß Tag, kann am Abend kein Olympiasieger werden. Auf das Treppchen kommt nur der, der dafür alles gibt, und sei es die Aufgabe der Gewohnheit, sich in den Hosentaschen am Sack zu kratzen.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch