Text 205/632

Titel
Die Festung
Der Text
Als ich sie erreichte, wäre ich fast über die zum Parkplatz ausgebaute Fläche hinaus in einer Vertiefung gelandet, die zu einem mittelalterlichen Wassergraben gehören mochte. Der Seenebel hatte die Sicht auf den Klotz versperrt, der voraus liegen musste, von dem aber nichts zu sehen war. Die Hinweisschilder gaben jedenfalls vor, dass ich am Ziel war. Es war eine dieser englischen Festungen, die vor ca 2000 Jahren entstand, Epochen erlebt hatte, wie auch die unterschiedlichen Besitzer, Besatzer und Hausherren. Von hier konnte man das Meer rauschen hören, von dem seinerzeit die Feinde ins Land fielen, um sich das zu nehmen, was ihnen in den Weg kam.

Sie hatte jedenfalls überlebt, hatte Sandstürme abgeschüttelt, sich der Verwitterung widersetzt und war jetzt ein Ort, der die Menschen anzog. Damals wie heute neugierig geworden durch Erzählungen und Berichte, dass es da etwas gab, was auf Basalt gebaut hoch aufragte, und unter seinem Steinmantel die Vergangenheit bedeckte, deren Zeugen längst zu Staub zerfallen waren. Hier war der Ort, wo Feste zelebriert wurden, genauso selbstverständlich wie Hinrichtungen in Kellerverliesen, in denen das Grauen seine Adresse hatte.

Und dann geschah in dieser Ansammlung kalter Steinquader noch etwas anderes: Es atmete die Feuchtigkeit an den Außenmauern aus, und sog jeden warmen Luftzug zu sich, wo er sich in Gängen und Gewölben in kalte, abweisende Atmosphäre verwandelte. Dieses bezog sich nicht auf die restaurierten Schauräume, die beheizt und auf glänzend ächzendem Parkett Stücke zeigten, die der damaligen Ritterzeit zugeordnet waren. In Hochglanzbroschüren konnte man sowohl die Geschichte, als auch Bilder dazu kaufen, doch es war nicht das, was ich selbst hier suchte. Während sich die Touristen mit Symbolen wie Plastikrittern und Rüstungen abschleppten, versuchte ich mit meiner Kamera, in die ich einen Schwarz- Weiß Film eingelegt hatte, Spuren zu finden, die aus Botschaften früher Tage stammten.

Ein ständiger Wind blies von Seeseite salzige Luft gegen den Stein, der seine mächtigen Füße hier in den Sand stemmte. Schnell erkannte ich, dass man diese Festung seinerzeit nicht besiegen konnte. Allenfalls konnte man seine Insassen aushungern in der Hoffnung, dass sie irgendwann aufgaben. In Friedenszeiten quälte man sich einen Hang hoch und stand plötzlich vor einem schmalen Eingang, der wie ein Rattenloch wirkte. Hier sollte nur Zugang finden der willkommen war, denn die Zeit damals wurde von Räubern und dem Gesetz bestimmt, das sich der Stärkere gab.

In dieser "Schleuse" entdeckte ich schwere Metallriegel, die einst mächtige Holztore hielten und von Eichen stammten, deren Nachfahren man jetzt noch in der weiten englischen Landschaft sieht. Erwartete ich innerlich, dass mich ein ausreitender Bote über den Haufen galoppierte, waren es heute zwei Japaner, die ihre Kameras in den Nebel hielten, um das graue Nichts im Innenhof festzuhalten, wobei sie rückwärts liefen.

Während der Nebel die Außenhaut der Festung beschlich, gab es im Innern ein diffuses Licht, das die Kälte noch unangenehmer machte. Mehr als der Einzelne, dessen Stellenwert im Mittelalter wenig galt, verkörperte die Festung die Macht der gerade Herrschenden. Hatte man sie, hatte man das Land. Von hier ließ es sich regieren.

Im südlichen Teil der Festung, die sich von der See abwandte, befand sich etwa in ihrer Mitte ein Brunnen, in den ich hinein rief. Mein Echo klang schwach, als ob es sich abwärts begab. Ich betrat die Stufen zum Keller, der unter der Außenmauer auf neugierige Besucher wartete. Es wurde deutlich kälter. Durch Eisengitter sah ich in ausgehöhlte Verliese, die schwach erhellt waren und soeben Eisenringe erkennen ließen, die in den Stein gelassen waren. Der Zweck dieser Ringe wurde schnell klar, denn wer an sie gekettet warten musste, der erlebte meist seine letzte Zeit auf Erden. Die Kellerverliese waren so klein, dass man weder sitzen, noch liegen konnte. Allenfalls knien.
In der Küchensektion warteten Steintröge auf Wasser, Feuerstellen auf einen Funken. Von der Rauch geschwärzten Decke tropfte es kalt in meinen Nacken. Kaum wieder im Licht sah ich eine der Krähen. Sie ließ sich durch einen langen schmalen Spalt eines Wachturmes in die Tiefe gleiten.

Begreift man endlich die Zeit des Mittelalters bis heute wird bewusst, dass es eine andere Welt war in der gelebt wurde, geliebt, geschmachtet und gekämpft, gefeiert und verloren.

Ich wähle den Weg zum Fahrzeug, der bergab in die Neuzeit führt. Inzwischen hat sich der zähe Nebel gelichtet. Beim Blick zurück sehe ich die Festung in ihrer übermächtigen Größe und mache ein riesiges Schiff in ihr aus, das vom Meer ausgespuckt wurde. Nicht einmal zur Seite durfte es sich neigen, um sich von den Strapazen seines Lebens zu erholen. Ein Schiff, das mit Kanonen bestückt wurde, die aufs Meer gerichtet waren, von wo seine Feinde kamen.

Obwohl es kaum Räume gab, die nicht zu betreten waren, obwohl alles erhalten wurde, und Bilder entstanden, die das Äußere zeigten, es blieb den Steinen im Nebel das letzte Wort. Dieses aber wurde erstickt wie mein Echo in der Tiefe eines Brunnens, dessen Grund ein ganzes Stück noch unter dem Meeresspiegel lag. Da, wo auch die Vergangenheit zu ruhen pflegt.

Nachwort:

Bei der Festung handelt es sich um Bamburgh Castle im Nordosten Englands. Sie gab u.a. der Autorin der später erschienenen Harry Potter Romane ihre Inspirationen.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein