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Titel
Die Mühle
Der Text
Schon oft wollte ich sie einmal besuchen. Nicht nur an ihr vorbei gehen, ab und an ein Foto von ihr machen, wenn der Himmel mitspielte. Ja, es schien sogar so, dass sie mich zu sich winkte. An Tagen mit ordentlichem Wind, ihrer mit grauem Stoffkleid bezogenen Flügel. Bis zu diesem Tag, an dem ich der Einladung des beschriebenen Holzschildes folgte, auf der schlicht in Kreide "Geöffnet" stand.

Leicht geduckt betrat ich den wahrhaft kleinen Vorraum, hinter dessen Holztresen eine ebenso kleine Person mich willkommen hieß. Sie verkaufte alle Dinge, die man um Schrot und Korn kauft, daneben Obst aus eigenem Anbau.

Meine Augen müssen sich erst einmal an das Halblicht gewöhnen, in dem ich eine Wendeltreppe ausmache, die wohl nach oben führt, hin zu den Flügeln. "Sie können hoch", sagt sie, die meinem Blick folgt. Ich zögere nicht lange, und trete auf die ersten Stufen, die von unzähligen Tritten ausgelatscht sind, und bei jedem Tritt ihren Unwillen durch ein beträchtliches Knarzen kundtun. In verschiedenen Decks stelle ich Abläufe fest, die zwischen Flügeln und Mehl stattfinden. Breite Gurtbänder, Umlenkrollen, das ganze komplizierte Machwerk einer ausgeklügelten Mechanik. Der Duft von gemahlenem Korn, von Jutesäcken und kaltem Backstein dringt in die Nase, die irgendwie damit erst einmal zurecht kommen muss. Mein Blick streift robuste Holzzahnräder, die perfekt ineinander greifen. Das Mühlrad schließlich, das das Korn zu dem mahlt, was wir später in der Tüte haben.

Das Mahlen, das mechanische Geräusch der Holzverzahnung, das des Windes, der um den massigen Mühlenkörper einen Umweg machen muss, begleitet mich weiter nach oben. Schließlich stehe ich auf der engen Plattform. Ich schaue auf meine kleine Stadt, auf ihren Park, auf rote Dächer und Spaziergänger mit und ohne Hund, und sehe den Dom, der alles überragt. Die Flügel wischen im Takt an mir vorbei, und werden durch Arretierung und ein Absperrgitter daran gehindert, die Gäste eben ganz schnell wieder loszuwerden.

Die paar Minuten in luftiger Höhe ließ ich mir gefallen. Etwas abgehoben von dem Mühlrad, das sich im Alltag zu drehen pflegt, ohne auch nur annähernd an die Gerüche, Geräusche und Lichteinfälle heran zu geraten, die jene Erbauer bis heute möglich machten. Alle Mühen, von der Aussaat bis zur Ernte, enden hier und erst dann, wenn man mit eigener Backkunst das fertige Brot aus dem Ofen holt, das belohnt oder bestraft, je nach Gelingen.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Ja