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Titel
Die Lärchentür
Der Text
Meine erste Kirche sah ich als Kind im Alter von fünf bis sechs Jahren. Jedenfalls kann ich mich soweit zurück erinnern, obwohl mich meine Eltern ganz sicher vorher auch schon einmal auf einem Besuch mitgenommen hatten.

Ich hatte, soweit ich zurückdenken kann, den Eindruck, in einem großen, nicht enden wollenden Raum zu sein, für den ich mich zu klein fühlte. Während draußen vor dem Portal alles herum brüllte, bewegte es sich drinnen langsam, flüsterte statt zu sprechen, gab es Kerzen die am Tag brannten in einem von Schummerlicht durchwirkten Raum, der gleichzeitig Angst machte und Neugier, der Fragen stellte. Von den Wänden sah mich alles an, und meine Mutter berichtete, dass ich sie dabei ganz fest hielt. Die Luft war von kaltem Bohnerwachs überzogen, glänzte in bunten Sprenkeln durch Zauberscheiben, in denen sich große Figuren ernst unterhielten. Ein Mensch mit gesenktem Kopf war aufgehängt an einem Kreuz, blutete und warf Fragen in mir auf. Er trug fast nichts in der kalten Luft und musste erbärmlich frieren. Ich hatte Mitleid mit ihm, obwohl er offensichtlich aus Holz war und das Blut getrocknet.

Die Menschen waren hier so komisch anders als draußen, manche weinten, obwohl ich bisher nur Kinder und mich weinen sah.

Inzwischen wurde ich erwachsen, heiratete in einer Kirche, hatte Antworten auf Fragen gefunden, die neue Fragen aufwarfen. Es war, wie ich heute weiß, ein immerfort währendes Frage und Antwortspiel, das bis in die jetzige Zeit reicht. Der Grund aber für meine Aufzeichnungen ist ein anderer, als die Auseinandersetzung mit dem Glauben, er ergibt sich aus dem unvergessenen Geschehen damals, vor etlichen Jahren an einem Spätsommernachmittag.

Als ich Mitte Zwanzig war, machten meine Frau und ich eine Bergwanderung. Wir fuhren nach Südtirol, wanderten auf schmalen, dem Berg angelehnten Wegen oberhalb von Meran durch die Weinhänge, hörten einen Bach neben uns fließen, der die Rebstöcke mit Wasser versorgte und trafen schließlich auf einen Ort, der ein gutes Stück abseits der normalen Wanderwege lag. Eine Bergkapelle fügte sich in eine Felsformation, als weigerte sich der Stein, aus dem sie gebaut war die Wand zu verlassen, wie alle anderen Steine der Umgebung, um dem kalt rauschenden Bach zu weichen, der an ihrer Seite vorbeischoss.

Ihr Dach war gedeckt mit grauem Schiefer, steil aufragend wie ein Dolch, die Blöcke ihrer Wände glitzerten in der Spätnachmittagssonne ganz besonders, wenn Wasser über die Quader spritzte. Von ihren Fenstern sah ich nur Nischen, in denen sich Spinnweb hielt, in deren Hintergrund etwas wartete auf etwas und sich im Luftstrom des Bergbaches schaukelte wie das Netz. Das Gebäude hatte etwas Abweisendes und Anziehendes, etwas, an dem man schnell vorbei ging, oder neugierig nachsuchte.

In der Karte war sie nicht eingezeichnet, wohl weil sie so klein war, oder man nicht wollte, dass sie öfters besucht wurde. Vielleicht war sie ja nur für die Leute in der Nachbarschaft, die den langen Weg ins Tal nicht brauchten, um etwas zu beten, oder zu erbitten.

Die Tür war aus grobem Holz, das Witterungsrisse wie Blitze aufwies. Unberechenbar gezackt sprangen sie um Astwüchse, verirrten sich im Silbergrau der Lärche, um dann irgendwo wieder aufzuspringen. Ich fasste darüber, und war über die Wärme des Holzes überrascht. Ein ganzer Nachmittag schien auf ihrer Sonnenfläche zu schlummern.

Als wir uns bereits abwandten, um weiter zu gehen, ging ich noch einmal zur Tür, drückte den Griff und hob sie mit der anderen Hand etwas an. Sie ließ sich tatsächlich öffnen. Heraus quoll kalte Luft, die sich sofort von der Hitze fangen ließ, als hätte sie darauf gewartet. Wir betraten das Innere der Kapelle, schlossen die Tür bis zum Anschlag, so dass von Außen niemand leicht sehen konnte, dass sie nur angelehnt war.

Es dauerte eine kurze Zeit, bis sich unsere Augen an die Lichtverhältnisse im Innern gewöhnt hatten. Es waren eher Lichtschatten, die über die Stuhlreihen huschten. Sie sprangen über den Boden, verweilten nicht einen Moment, kamen von den schmal schlitzigen Fenstern, durch die die Sonne schien und waren aus Bernstein und Türkis, aus Raub und Blei, aus Geschichten, die im Glas gefangen einen Hüpfer machten über eben jene Bänke und Böden, die wir im ersten Blick sahen.

Gleichzeitig fast blickten wir beide nach vorn zum Kreuz, das aus Einfachheit gebaut war wie die Menschen hier. Aufrecht stehend an nur einem Platz, mit dem Fuß auf wenigen wichtigen Zentimetern. Aufgerichtet bis zum Kirchendach. Ich fühlte mich als Eindringling in mir bekannt, gewohnte Stube, ohne mich angemeldet zu haben. Unbemerkt.

Unterhalb des Kreuzes, dort wo normalerweise die abgewetzten Steine, die kleinen Teppiche der Frischvermählten, der Ort des Abendmahls stattfand,

lag aufgebahrt ein Mensch -

Er lag da, als wartete er darauf abgeholt zu werden, bewegt zu einem letzten Ort von Anderen, nicht ihm. Er war aus einigen Metern so gut zu erkennen, denn der Sarg, in dem er ruhte war leicht schräg zum Eingang hin geöffnet.

Dem ersten Impuls uns sofort aus der Kapelle zurückzuziehen folgten wir nicht. Wir gingen näher an den Sarg, den Atem ebenso anhaltend wie die alte Dame, wie es sich herausstellte. Sie war bis zum Bauch mit einem schlichten Leinentuch bedeckt, trug ihr weißes Kleid wie bei einer Hochzeit und hielt in ihren mondbleichen Händen mit den fliederfarbenen Fingernägeln Sonnenblumen. Sie schütteten etwas Gold über ihren Hals, ihre Blätter bedeckten die letzten Wochen, als sie noch von ihnen sprach. In ihrem Gesicht las ich die gleichzeitige Freude, die sich mit dem Umstand des Todes so schlecht verträgt für den Einen, für den Anderen aber eben das Lächeln gibt, das ich in ihr sah.

Ich hatte den Eindruck am Ursprung der Stille zu sein, dort wo sie lautlos heraussprudelt, immer noch erzählend als lebte sie noch weiter, um irgendwann einmal zu bemerken, dass sie lag und niemand ihr mehr zuhörte.

Nach einer Weile drehten wir uns um und näherten uns der Tür, die uns anfangs den Eingang verwehrte.

"Darf ich fragen woher Sie kommen?"

Eine Frage peitschte durch die Bänke, stoppte uns vor der Tür, ließ uns erschauern und ganz langsam umdrehen. Ein Mann stand an einer der Säulen. Er musste uns beobachtet haben.

"Aus Deutschland" antwortete ich, ihn ansehend.

"Sie ist von dort und unterwegs dahin", sagte er nur.

"Sie ist unterwegs."
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch