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Titel
Die Klavierlehrerin
Der Text
Die Klavierlehrerin


"Geben Sie mir bitte zwei Pfund Tomaten!" Ich stand hinter ihr. Einen Kopf kleiner als ich und silbergraues Haar. Ich hörte nur diesen Satz. Im Lauf der Jahre verändert sich vieles. Haare werden silbergrau, Zähne goldig, und Brillengeschäfte gibt es etliche. Nur die Körpergröße ist etwas, das fast bleibt, genau wie die Erinnerung.

Es war alles wieder da. Sofort nach den zwei Pfund Tomaten kehrte sie zu mir zurück. Die Schule, das Klavier, ihre Stimme. Ich überlegte kurz, ob ich ganz einfach gehen sollte, aber irgendetwas hielt mich fest hier. Neugierig vorsichtig trat ich einen Schritt zur Seite. In ihrem Gesicht, das ich jetzt etwas besser sah, zeichneten sich die für sie so typischen Äderchen ab. Je nach Stimmungslage waren sie das sichtbare Zeichen für ihre innere Verfassung. Eine Landkarte der Seele. Einer schwarzen Seele.

Zwei Jahre Klavierunterricht unter erschwerten Bedingungen stiegen in mir auf. Würde sie mich, ihr Opfer wieder erkennen? Wusste sie, was aus mir geworden war? Dass aus mir nach der letzten Stunde, nach all den Leiden und vergeblichen Versuchen kein Konzertpianist geworden war?

Sie war damals schon Fräulein. Kein Mann hielt es länger als eine Oktave neben ihr aus. Manchmal, so erinnerte ich mich, konnte sie richtig lieb sein. Das waren kurze Momente, viel zu kurze. Sie vertrat die "Alte Schule". Kleine Kinderhände erforschten das "Noten-Auf und -Ab" eines Herrn Mozart, und wenn nicht richtig geübt wurde, gab es was auf eben diese Fingerchen.

Kaum vorstellbar in der heutigen Zeit, wo die bloße Absicht einer eventuellen Züchtigung schon unter Strafe zu stehen scheint.

Und dann ihre Stimme. Mit ihr konnte sie mehr Schmerzen zufügen als mit ihrer fleischigen Hand. Sie klang wie ein Satz, den man mit einer Gabel an eine Kreidetafel schrieb. Während andere Kinder mit ihren Badesachen auf dem Weg zum Schwimmbad waren, wartete sie schon auf mich. Mit ihrer Gabelstimme im Ohr spielte ich ihr immer wieder schaurig schöne Stücke eines Herrn Mozart vor, die er selbst nie geschrieben hatte. Besonders wütend machte es sie, wenn sie zu haute und ich schnell genug die Finger wegzog. Der darauf folgende gemischte Ton beendete jede gute Stimmung und förderte nicht meine Liebe zum Instrument.

Oft überlegte ich mir, wie ich mich rächen konnte. Fantasie hatte ich damals schon genug, aber der Respekt war um ein vielfaches größer. Mein Lieblingsstück hieß:
"Der fröhliche Landmann". Es stammte aus einer Zeit ohne MKS und BSE und machte, gut vorgetragen, Mut, diesen schweren Beruf zu ergreifen.

Jetzt packte sie ihre Tomaten ein und bemerkte nicht, wie ich ihr heimlich eine Zitrone dazutat. Sie würde sich sicherlich den Kopf darüber zerbrechen wie die da hingekommen war, aber das sollte sie auch.

Die Zitrone war der wohlverdiente Lohn für die Zeit, die sie mir versauert hatte damals, als meine Kinderhände noch klein waren aber groß genug, um darauf herum zu hauen.

Ich sah ihr noch eine Weile nach, wie sie über den Platz ging und pfiff innerlich die Melodie vom "Fröhlichen Landmann".
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch