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Titel
Die ersten Berge
Der Text
Die Nacht durch gefahren mit den lieben Nachbarn, auf dem Rücksitz die Schlaflosigkeit vergeblich bekämpft, denn ich war aufgeregt seit ich wusste, dass es in die Berge gehen sollte. In die Berge, die so hoch sein sollten, dass der Schnee selbst im Sommer nicht schmolz, was ich mir gar nicht vorstellen konnte, da ich ja aus dem Flachland war, aus dem Wald, in dem spätestens im Frühling alles verschwand, was an Winter erinnerte.

Jetzt war Mai, die Nächte schon warm, und der Winter noch gar nicht weit entfernt, nur in meinen Gedanken schon Vergangenheit. Sie waren ausgerichtet auf die hohen Berge, die denen in meiner Umgebung um eine vielfaches höher sein sollten. Auf Bildern hatte ich ein paar gesehen. Sie hörten am Rand auf und fingen irgendwo an. Es waren ja nur Ausschnitte wie auf einer Briefmarke. Im engen Auto erreichten wir den Münchner Ring, ein scheußliches Verkehrsgedränge damals schon, das meine Nervosität nicht gerade dämpfte. Ich wollte dahin, von dem man sagte, dass es etwas ganz besonderes sei, wenn man auf sie hinauf kletterte und alles von oben zu sehen bekam. Mehr als ich, wenn ich einen der hohen Bäume am Waldrand erkletterte, um die ersten Dächer des Dorfes zu sehen.

In der Nähe von Rosenheim machte ich mich ganz klein, um durch die Lücke der Vordersitze und die Windschutzscheibe etwas zu sehen, das bläulich gefärbt durch morgendlichen Dunst mehr wie eine Wand aussah, die am Rand der Scheibe aufhörte und irgendwo anfing. An einer Raststätte stiegen wir aus, machten unsere Beine gerade, und nahmen einen Schluck aus der mitgebrachten Thermoskanne. Die Luft war frischer, kühler als dort, woher ich kam, und jetzt durfte ich sie sehen, meine ersten Berge, die hinter einem Davor hervor schauten und wichtig taten. Eine Kette mit Spitzen, ja mit weißen Spitzen.

Unser Nachbar fuhr durch bis zum Ziel, das in den hohen Tauern lag in der Nähe des Tauern Tunnels. Auf dem Weg dorthin kamen wir den Bergen nicht nur nah, wir waren mittendrin und schlängelten uns auf ausgebauten Straßen bis zur Ankunft, wo uns die Familie so herzlich begrüßte, als wären wir ein Teil davon. Die Nachbarn waren wohl schon oft hier und machten Urlaub. Ich lief geradewegs zu einem Bach mit klarem Wasser, das aus großer Höhe herab brauste und prüfte seine Temperatur. Es kam vom Schnee ganz oben und war dementsprechend kalt. Ich hielt quasi den Winter in meiner Hand, den ich zurück gelassen hatte, und ihn wieder als alten kalten Freund begrüßen konnte.

Auf der Rückfahrt sollte ich noch oft durch die Rückscheibe schauen, auf die weißen Gipfel, denen ich so nah kam wie etwas ganz besonderem.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein