Text 183/632

Titel
Der Spickzettel
Der Text
Wer behauptet, im Leben nie einen dieser wertvollen Helfer benutzt zu haben, muss entweder ein Genie sein und liest diesen Beitrag bestimmt nicht, oder besucht immer noch die zweite Klasse...
Allein das Anfertigen dieser klitzekleinen Zettel brachte es mit sich, sich mit der verhassten Materie zu befassen, die eigentlich Antimaterie heißen müsste. Aufgrund schlechter Erfahrungen, die mein direkter erwischter Nachbar damals gemacht hatte, entschloss ich mich, auf einen Zettel zu verzichten, und schrieb so viele Formeln wie möglich in meine Handfläche, die plötzlich bis zum Oberarm reichte.

Es kam der Montag. Stunde drei und vier Chemie. Alle in den Chemiesaal bitte. Da konnte man uns fein auseinander setzen. Abschreiben schwierig bis nutzlos. Der Lehrer, ein gewisser Herr Lötsch, konnte nicht nur gut Schach spielen, er war auch weder kurz-, noch weitsichtig. In seinem weißen Kittel stolzierte er geräuschlos durch die Reihen, und blickte interessiert auf das bisher Geschriebene. Ich war zu dem Zeitpunkt sehr vertieft darin, die mit Kuli aufgetragenen Zahlen, Buchstaben und Klammern zu entziffern, da sie aufgrund vermehrter Schweißbildung immer diffuser wurden. Manche Formel hörte schon nach der Klammer auf, eine andere passte einfach nicht zur Frage.

Lötsch war aufgrund eher mäßiger Leistungen meinerseits anscheinend hoch interessiert an meinen Ausführungen, und hatte sich hinter mir unbemerkt genähert. Sein Blick musste sich sehr auf das bisher Verzapfte konzentriert haben, weshalb er nicht bemerkte, wie ich einer Formel folgte, die sich in Höhe des Musikantenknochens auflöste. Den Augenblick, als ich seine massige Gestalt in einem der Spiegelschränke hinter mir wahrnahm, vergesse ich mein Lebtag nicht. Mein ausgerenkter Unterarm nahm sofort wieder Normalhaltung an, die Hand schloss sich wie um einen Klumpen Gold.

Wortlos ging er weiter, hatte tatsächlich nichts bemerkt.....

Als wir die Hefte am Ende des Tests abgaben, nahm er meines mit den Worten entgegen:

Und jetzt gehst du duschen!

Die Zensur, die ich bekam, spielt eher eine untergeordnete Rolle. Sie lag zwischen 7 und 5.

Ach ja, weshalb ich diesen Text schreibe liegt daran, dass ich mich an die Zeit der Formeln erinnere. Diese Woche startet die Formel 1. Eine unerreichbare Zahl zu Schulzeiten.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Ja