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Titel
Der vorletzte Fahrgast
Der Text
Er erinnerte sich an die Fahrt mit der Straßenbahn an einem Vorweihnachtsabend. Vom Marktplatz bis zum Flughafen der Stadt, dessen Endpunkt die letzte aller Haltestellen der Linie war. Nach und nach stiegen auf diesem Weg mehr Menschen aus als ein, und fast vor der Endstation, quasi direkt vor dem hell erleuchteten Schild ANKUNFT, war er allein in der Bahn mit dem Fahrer. Noch eine Haltestelle zum Raumfahrtcenter ERNO ca. 400m entfernt. Sein Sitz war fast mittig, in der aus 4 Waggons bestehenden Straßenbahn, und kurz rechts vor der Einstiegstür. Er war sich in diesem Moment bewusst, dass er und der Fahrer die einzigen Gäste an diesem neblig kalten Abend waren. Für wenige hundert Meter noch bis zur Endstation, in deren Nähe er sein Auto geparkt hatte.

Die Bahn würde nach einer kurzen Pause danach in die Schleife am Ende fahren, um weitere Reisende wieder am Airport aufzunehmen, falls es noch welche geben sollte. Er sah aber niemand. Als die Tür kurz vor der Weiterfahrt auf Knopfdruck geöffnet wurde, stieg noch ein Mann zu. Ein Mann mit einer Aktentasche und Mantel, eine eher unauffällige Gestalt, die nicht einer seiner Kollegen war, die gleich nebenan arbeiteten und sich einige Meter Weg zu Fuß sparten bis zur Nachtschicht.... Er nahm nur zwei Sitzreihen hinter ihm Platz auf der anderen Seite des Waggons und spiegelte sich in einem der Fenster.

Vielleicht, dachte er, stieg er ja nur zu, um der klirrenden Kälte zu entgehen, nur zu, um dann in die Stadt zu fahren...? Vielleicht begann bald seine Schicht bei MBB, der Raumfahrtfirma? Die Bahn machte ihre letzte kurze Strecke und hielt. Er stieg aus und wartete darauf, dass sein Begleiter ebenso die Bahn verließ, oder aber der angenommene Rückfahrer in die Stadt war. Dieser stieg aber weder aus, noch war er im hell erleuchteten Waggon mehr zu sehen. Keine der anderen Türen wurden geöffnet, das hätte er gehört. Neugierig geworden, blieb er minutenlang etwas abseits stehen, ob sich im Waggon etwas tat, denn ihm war niemand gefolgt. Zum Fahrer war niemand gegangen, das hätte er jetzt gesehen.

Er zweifelte etwas daran, ob überhaupt jemand den Wagen bestiegen hatte, ob er jetzt nicht genau genug hingesehen hatte, das abermalige Öffnen der Tür überhört, den letzten Gast im letzten Licht? Überlegungen zum Fahrer zu gehen, um eine Erklärung zu finden, kreisten gegen die Möglichkeit, dass er von diesem für nicht ganz dicht gehalten werden könnte, und doch, er wartete in der Kälte bis zur Abfahrt der Bahn. Bückte sich sogar, um unter den Waggon zu schauen. Die Umgebung der Endstation war weit und einsehbar.

Als der hell erleuchtete Straßenbahnzug an ihm vorbei rollte, war allein der Fahrer zu sehen, sonst nichts....
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch