Der Text
Jahrelang elektrisierte mich die Klingel des Eiswagens direkt an der Schotterstraße vorm Haus. Dann stürmte ich ohne Geld hinaus, bevor er wieder losfahren würde. Was natürlich nie passierte. Der Fahrer wusste ja wer hier wohnte. Irgendwann muss er aufgegeben haben. Es rechnete sich wohl nicht mit gestiegenen Spritpreisen und Stroßdämpfererneuerungen wegen der beachtlichen Schlaglöcher. Es war ein richtiger Italiener. Die konnten Straßen bauen und Eis machen, drangen bis zum Rhein vor und pflanzten Wein an. Soweit meine damaligen Erkenntnisse über die Menschen hinter den hohen Bergen.
Nach Jahrzehnten trieb es aus nie genau geklärten Gründen einen von ihnen ins Weserbergland. Man stellte ihn vor als Lucio, das war einfacher als sein tatsächlicher Nachname, der keine Rolle spielte, sobald man in seine flinken Augen sah. Sie vergruben sich in einem rotbraunen kleinen Kopf aus der eine Nase hervor ragte, die einer keimenden Kartoffel ähnlich war, nur breiter. Wie alle Sizilianer war er zwei Köpfe kleiner als die nördliche Ausgabe der Männerwelt, und fuhr mit Sitzkissen sein Eisauto herum, um das sich nicht nur die Kinder scharten.
Lucio lebte mit seiner immer mehr wachsenden Verwandtschaft im nächsten Nachbarort und baute die Freundschaft zu unserer Waldsippe so aus, dass er wie ein Familienmitglied galt, das meist unangemeldet ins Haus kam und nach dem Rechten schaute. Hilfsbereit wäre eine Untertreibung. Er packte sich die schwersten Lasten, die es zu verrücken galt, grub nach Wasser, das er durch die Grasnabe mit seiner Kartoffel riechen konnte, und half bei der Beförderung des Sarges meines Vaters aus dem Wohnzimmer, durch dessen Tür kein Sarg passte, und ihn als ersten Träger fast allein ließ mit dem nahezu senkrecht gestellten Schwergut. Wenn jemand in den Urlaub verreiste, passte er auf wie einer von der Mafia, verlangte kein Geld dafür, außer einem Dank, und erklärte seiner besorgten Frau, wo er denn nun geblieben sei, wo doch das Essen längst auf ihn wartete. Dazu benutzte er sein damaliges Handy von Nokia, mit dem man nur telefonieren konnte. Aus seinem Mund sprudelte ein Schwall sizilianischer Wörter, die jedem Übersetzer das Handwerk legen würden.
Falls jemand mal nach Spuren von Sizilianern sucht, ohne in den Häusern nach ihnen zu klingeln, dann sind untrügliche Zeichen zu finden. Schrottreife Autos, die sie noch sämtlich zu reparieren gedenken, oder als Ersatzteillager in ihrer Nähe einfach verrosten. Als hervorragender Hobby Koch legte er Wert auf Frisches. Seinen anfangs 12 Kaninchen schob er einen ausgewachsenen Hasen Marke Riesenrammler zu, und erhielt tatsächlich zahlreiche fleischlastige Langohren, die allesamt dem Vater ähnelten. Um sie gegen den Fuchs zu schützen, der herum strich, legte er sich alsbald eine Schrotflinte zu, die aus den Werkzeugansammlungen einer seiner Garagen herausragte. Es folgten im Sommer Nachtschichten, wo er schon mal den Gewehrlauf fast bis auf den Gehweg herausragen ließ. Lucio war der Beschützer nicht nur seiner Fleischzüchtungen, sondern sprach mit seinen Auberginen, seinen Zitronen, Tomaten und Gurken in einem von ihm übernommenen Gärtnerei Gewächshaus, das zu einer sofortigen Kündigung des Mietvertrages führte, als der Besitzer einmal unangemeldet seine Gärtnerei besuchte, aus deren Dachlücken Tomatenranken um die Sonne stritten.
Die Zeit als wir alle mit Zuchinis in XXL versorgt wurden, mit großblütigen Artischocken und Kanaldeckel großen Fleischtomaten ging jäh vorbei. Auch reiste er jetzt häufiger zur Nonna in seine Heimat, der das Haus bei einem der Brände am Ätna abgefackelt wurde, und kümmerte sich um sein Erbe, das durch 15 zu teilen war, und der Gemeindeverwaltung einen Dauerstreit über die Erstattungskosten auslöste. Wenn aber die Nonna in seinen Eiswagen stieg, um die Alpen zu überqueren, dann blieb sie bis Weihnachten oder Ostern je nach Jahreszeit, und übernahm die Küche.Von der Fahrt erholte sie sich schnell, und saß zwischen Kisten saftiger Orangen im Advent, aus denen nur ihr kleiner Kopf heraus ragte. Rotbraun mit einer Kartoffelnase.