Text 162/622

Titel
Der lange Weg zur Krippe
Der Text
Wer die Gesichter der Gemeinde kannte, und jeder kannte jedes Gesicht, der sah immer dieselben sonntags herausgeputzt zum Gottesdienst kommen, oder wie heute zur Christmesse. Es waren jene, die eine alte Tradition wach hielten, trotz der um sich greifenden Überzeugung, dass es ohne Kirchensteuer auch in den Himmel ging.

Auf den rechtwinklig gezimmerten Holzbänken nahmen schon eine Stunde vor Beginn der Andacht die großen und kleinen Sünderlein ihre Plätze ein, um ganz vorne einen freien Blick auf das Geschehen am Heiligen Abend zu haben. Sie wollten dabei sein, wenn sich wie vor über 2000 Jahren ein junges Paar auf die Suche nach einer Herberge machte.

In den Grundschulklassen wurde nach einer Jungfrau gesucht, ein passender Josef mit fester klarer Stimme dazu. Die jüngste Tochter des ältesten Bauern im Dorf durfte die Hauptrolle spielen. Sie war selbstbewusst, hatte eine deutlich hörbare Stimme und schien ideal für die Maria Rolle. Ihr passte das Sackkleid aus sichtbar Maus geschädigter Jute am besten. Ein den ärmlichen Verhältnissen der heiligen Familie angemessenes Teil, in dem noch einen Tag zuvor eine Maus 7 Jungen das Leben schenkte. Josef trug die Hose seines großen Bruders mit den Trägern vom Opa, der bemüht war die eigene bis in die vorderste Reihe am Knochen zu halten.

Einzig der Wirt war eine Zweitbesetzung, weil das Original mit Mandelentzündung im Bett lag. Er hatte die undankbare Rolle, auf die Zimmernachfrage nur mit einem barschen "Nein" zu antworten.

Nach Andacht und Gesängen setzte sich endlich die Prozession in Bewegung, auf die alle gewartet hatten. Schwer in Josefs Arm hängend, schleppte sich die hochschwangere Maria vor die Fassade der Herberge, hinter der der Mandelentzündungsvertreter auf die Frage wartete.

"Ist denn hier ein Zimmer frei?"

Josefs Stimme nach dem Klopfen war bis in die hinterste Reihe gut zu hören. Anstatt aber das Fenster zu öffnen, und die heilige Familie barsch abzuweisen, ertönte die Stimme eines Navigationsgerätes aus den Reihen der Gemeinde:

"Ihre neue Ankunftszeit ist 1830 Uhr. Es liegt eine Ausweichempfehlung vor. Bitte sprechen sie laut und deutlich "Ja", wenn sie es wünschen!"

Betretenes Schweigen -

In den Proben hatte man an alles gedacht. Weder fehlte Ochs noch Esel, der Stern wurde tapfer über den offen stehenden Stall gehalten. Die Heiligen drei Könige waren bis zur Unkenntlichkeit geschminkt und warteten darauf, dem Jesuskind noch im Haferstroh einen Gameboy zu überreichen.

Doch jetzt drehte sich alles zur Stimme um, die zu einem Lodenmantel gehörte, aus dem ein hochroter Kopf heraus ragte. Der Wirt war zu einem Verwirrten geworden, der erst einmal das weitere Geschehen abwarten wollte. Josef atmete hörbar durch. Maria wurde ungeduldig, der Stern von Bethlehem begann zu zittern.

In ruhiger Umgebung ist die Bedienung eines Navigationsgerätes, speziell seines Ausschaltens, meist kein Problem. Starrt einen aber die ganze Kirche an, sieht das schon anders aus.

Während der Täter versuchte der Dame im Navi den Hals umzudrehen, übernahm die hochschwangere Maria im wahrsten Sinne des Wortes "geistesgegenwärtig" die Szene.

"Komm Josef, du hast es doch gehört, es gibt eine Ausweichempfehlung. Lass uns zum Stall gehen!"

Für ihre Schlagfertigkeit, die den Heiligen Abend rettete, bekam sie nach der Vorstellung den Stern von Bethlehem geschenkt. Das Lied "Ihr Kinderlein kommet" sangen in diesem Jahr alle mit besonderer Inbrunst und gingen nach Haus, um ihre Geschenke auszuwickeln. Manches wird ein Navigationsgerät gewesen sein. Eines mit Ausschalter und leicht zu bedienen.

Hoffentlich!
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch