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Titel
Der letzte Sommer
Der Text
Keiner wusste mehr, seit wann dieser Garten bestand. Für die meisten Dorfbewohner war er immer schon da. Wie die Alte, die ihn nach dem Krieg übernahm, indem sie sich um ihn kümmerte. Zuerst mit, dann ohne ihren Mann, der eines Sonntag Morgens über der Zeitung mit der Seite der Todesanzeigen eingeschlafen war.

Man kannte sie, und ihre immer gleichen Gänge vom Haus zum Garten und wieder zurück. Manchmal mit einem Korb, in dem sie neben Johannisbeeren im zunehmenden Alter auch Rückenschmerzen mit nach Haus brachte. Sie ging dann ganz schief, grüßte gebückt die Vorbeikommenden, die ab und an ein Schwätzchen mit ihr hielten.

Ihre Enkel- und Urenkelkinder interessierten sich weder für sie, noch für das, was der Garten abwarf, und schon gar nicht für ihre Marmeladengläser Sammlung im Keller. Seit es die Supermarktketten in der Stadt gab, zählten Payback Punkte und Sonderangebote, während es an den Zweigen im Garten rot leuchtete, oder goldfarben am hoch gewachsenen Birnenbaum. Man kann sagen, dass sie im Garten einen, wenn nicht den einzigen Freund erkannte, der sein Erdenglück mit ihr teilte.

Sie selbst konnte auch teilen. Manchmal steckte sie den Schulkindern etwas aus dem Garten zu, und blinzelte einen Moment Freude mit ihnen aus. Sie waren aber schnell wieder weg, wie die Zeit allgemein dazu neigte, schneller zu vergehen. "Dass sie sich das noch antut in ihrem Alter" hörte man die Leute reden, und "dass da mal keiner nach ihr schaut"? Sie selbst empfand das ganz anders. Während sich in den Fensterscheiben der Dorfhäuser das bläuliche Licht der Fernsehapparate verfing, hatte sie längst ihre dicke Kerze auf dem Schränkchen mit den Bildern entzündet. Daraus leuchteten wache Augen auf. Kinder in Badehose, Hochzeitsgesellschaften, und sie selbst mit ihrem Mann in glücklichen Tagen.

Die langen dunklen Tage des Winters führte sie Gespräche mit sich selbst, oder wenn sie keine Antworten auf ihre Fragen bekam, mit ihrem Kater, der ihr zugelaufen war, und nicht mehr gehen wollte, seit sie ihm die Gräten vom Fisch vor die Tür legte. Er war warm im Fell, und schnürte um ihre Beine, wenn sie vom Garten kam, legte sich des nachts auf das Bettdeck, und begann mit jener eigentümlichen Melodie, geronnen aus Zufriedenheit und Ruhe aus lauter Abwesenheit bei gleichzeitiger Anwesenheit.

Schmerzen hatte sie nur im Rücken, jedoch waren die anderen, die nicht vom Körper ausgingen, die anderen, jene, die von den Gedanken beherrscht wurden, wie es ohne den Garten weiter gehen würde, ohne sie, die richtig weh taten. Der Buchs würde sich durchsetzen, die Stauden immer wieder kehren. Das Kraut würde zuerst sich die mühsam behüteten Stellen vornehmen. Nur die Rosen, die weißen gleich neben dem Eingangstor, würden sich zur Wehr setzen können. Sie blühten spät, bis sie der Frost holte, der zu ihren Füßen schon alles geholt hatte.

Sie griff ins Fell des Katers, der sie mit seinen grünen Augen wie gewöhnlich anschaute, und erst das Haus verließ, als ihre Hände still und kalt wurden. Er setzte sich vors Haus und blieb die Tage, bis man sah, dass sein Blick ins Leere ging.

Danach öffnete man die Tür.....
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Ja