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Titel
Der Hahn
Der Text
Der Hahn

Frag mich bloß keiner welcher Rasse er entstammte, welche kampfwütigen Vorfahren einer wie er hatte. Jedenfalls war er der Hahn im Korb, auf dem Mist, und überhaupt. Zehn bis zwölf Hennen scharte er um sich, eine war immer am Legen, eine gluckte in einer Holzkiste, und die anderen mussten jederzeit damit rechnen, dass er sie "besuchte", indem er mit Anlauf auf die Auserwählte zu raste, und ihr zuerst in den Kamm hackte. Das machte Eindruck!

Während der Tage seiner Regentschaft wagte es weder der Fuchs noch der Habicht sich einer seiner Hennen zu bedienen. Schon sein morgendliches Geschrei inspirierte in den Nachbardörfern andere seiner Zunft zu antworten, mich eher dazu, mich noch einmal umzudrehen oder durchzudrehen, oder beides. Heute kann man den Hahnenschrei als Klingelton herunter laden, oder in Filmen hören. Das, was von ihm übrigblieb, dreht sich an Eisenstangen vor überhitzten Gittern und muckt nicht mehr auf. Welches Huhn weiß überhaupt noch, was ein richtiger Hahn ist, der sich zärtlich um den Kamm kümmert bei der Besteigung? Eng an eng hockt es auf Rosten und erblickt erst wieder das Licht der wahren Welt, wenn es bald wieder aus geht.

Reden wir nicht über heute. Damals erweiterte der bunte Gesell seinen Herrschaftsbereich bis auf die Straße, später dann sogar ein ganzes Stück weg von der Miste, nur um mich "abzuholen", wenn ich von der Schule kam....Er schien auf mich zu warten und nahm Anlauf, um mir in den Nacken zu springen, damit er sich beim Zuhacken festkrallen konnte. Eine Verwechslung? Lag es am Tornister oder an meiner bunten Pudelmütze, oder einfach am Spaß daran, einen kleinen Menschen zu jagen?

Oh, er war flink, und ich überlegte ernsthaft einen Umweg einzuplanen, um ihm aus dem Weg zu gehen. Eines Tages, die Hühner sahen schon nicht mehr schön aus mit ihrem zerhackten Kopfschmuck, mein Bommel an der Mütze zeigte Auflösungserscheinungen, beschloss der Familienrat ihn zu "beseitigen". Geeignet dazu war ausschließlich mein Opa, der die Ostfront, sowie die Westfront überlebte, und an der Fensterbank für alle Fälle das Schrotgewehr stehen hatte. Anfassen oder schlachten wollte selbst er ihn nicht.

Die doppelläufige Flinte wurde mit zwei Schrotpatronen geladen, während ich ganz in der Nähe dabei sein durfte, wenn es gegen meinen Feind ging. Es war am Morgen, wenn er seine Flugstunden hatte, und nur kurz den Mist betrat, um sich sofort wieder den Hennen zu widmen. Flügelschlagend, auf einer balancierend, erwischte es ihn dermaßen, als hätte man bei Frau Holle das Laken aufgeschlitzt beim Schütteln.

Mein Opa war ein Held und sollte einer bleiben über die Jahre. Am Tag darauf gab es Hühnersuppe mit Einlage, die ich an den Rand des Tellers schob. Sie schmeckte trotzdem köstlich.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Ja