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Titel
Der Rauschebart
Der Text
Wer heute das Wort Weihnachtsmann googelt, bekommt sofort einen Link zur Seite Opa, Vater, Student. Da der Weihnachtsmann, trotz vielfältiger Bestrebungen der Frauengleichstellungshüterinnen, immer noch männlich ist, taucht Mutter, Tante oder Oma eben nicht auf. Für neugierige, bereits früh vernetzte Kids ist schnell alles klar, und der geschickteste Vollbart mit Rotkappe hat keine Chance unerkannt zu bleiben. Das Alter, wo man noch etwas vormachen konnte, sank mit der zunehmenden Aufklärung. Schade das!

Spätestens im Kindergarten tauschen die Ahnungslosen ihr Wissen um die Wahrheit jener winterlichen Erscheinung mit den Kennern der Szene aus. Es sterben die Illusionen. Ernüchtert müssen Kevin, Marvin oder Anna die Bemühungen und albernen Fragen des Buckligen über sich ergehen lassen, bis dieser endlich den Sack öffnet, um ans Eingemachte zu kommen.

Das Ende meiner unaufgeklärten Zeit war spätestens dann gekommen, als der Opa durch Abwesenheit bei der Bescherung glänzte, und der Typ mit dem zu langen Mantel einen Hustenanfall bekam. Genau wie Opa! Außerdem besaß er Detailkenntnisse über meine Missetaten, die lange vor der NSA gar nicht möglich sein konnten!

Wenn ich heute einem dieser Zunft in der Fußgängerzone begegne, schaue ich mir ganz genau die Kinderaugen an. In ihnen spiegelt sich nämlich das, was im kleinen Köpfchen vorgeht. Das reicht von purem Entsetzen bis hin zu mildem Lächeln. Je nach Aufklärung eben.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch