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Titel
Der Friedhof
Der Text
Der Friedhof lag direkt oberhalb der Klippen. An ihren Füßen versuchten Jahrhunderte meterhohe Brecher vergeblich, sie zu sich zu holen. Immerhin schafften sie es, das Land im Nordwesten Englands ähnlich den Zähnen einer Maus anzuknabbern, um sofort mit der Beute zu verschwinden. Über die Friedhofsmauer blickte ich in einen Kessel aus brodelndem Wasser, Wut und Stein und Widerstand, und dazwischen gänzlich stillen Sekunden, in denen es sich der Angreifer überlegte, welche Taktik wohl zum Erfolg führen könnte.

Der so abseits gelegene Hof des Friedens war bewusst hier erbaut worden. Weil es das Meer so wollte und die Menschen, denen es etwas bedeutete. Sie wollten ihm nah bleiben als Fischer, Abenteurer und Seeleute auf großer Fahrt, die ihm ohnehin nie entkamen, selbst in ihren guten und bösen Träumen nicht.

In der Umgebungskarte war lediglich das Zeichen des Kreuzes eingezeichnet. Neben denen der schönen Aussicht und des empfohlenen Fischrestaurants. Aus reiner Neugierde trieb es mich bis zur Eingangspforte, deren Existenz sich ebenso aufgelöst hatte wie das Fleisch und das Lachen der Begrabenen, denen der Platz gewidmet war. Die verwitterten Grabsteine bemühten sich um eine gerade Haltung, die ihnen mit den Jahren abhanden kam. Ganz ähnlich der Buchstaben, die, in sie gemeißelt, als unsterblich gedacht waren, aber dem Seeklima zum Opfer fielen.

Einige von mir frei gekratzte Zahlen bestaunte ich, kannte ich doch von daheim die schnellere Vergänglichkeit der Friedhofserinnerungsstücke. Und keiner der hohen Grabsteine war der Korrektheit einer Wasserwaage gewogen, folgte eher den Erschütterungen, die sich in zweieinhalb Metern Tiefe im felsigen Boden vollzogen. Das eingestürzte Dach über einem eingestürzten Leben. Ein Dach, das nichts mehr zu halten hatte, weil es nichts mehr zu halten gab.

Und etwas anderes fiel mir hier auf. Zuerst fast nicht wahrnehmbar erklang ein unstimmiges Lied, das sich mit zunehmendem Wind steigerte. Ein Auf und Ab, ein Summen, ein Lied, dessen Übersetzung es keiner Sprache bedurfte, als nur die der Vergänglichkeit.

Ein Strauß sei noch zu erwähnen. Ein Strauß künstlicher Nelken lag auf einem der Gräber, direkt vor einem der schiefen Steine. Ein künstlicher Strauß Blumen, der der Ewigkeit etwas mehr Zeit abringt als das normale Leben im Sturm. Einer Diva gedacht, wie einem Helden auf See. Wenn das Meer es so wollte, würden die ersten Gräber direkt an der Steilkante mit hinab genommen werden. Es würde kein Erstaunen auslösen, und nur der Nelkenstrauß würde davon schwimmen in eine ungewisse Zukunft.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch