Der Text
Er blühte im Mai. Wie die meisten seiner Art hatte er längst gespürt, wie aus seiner Rinde, die aufgrund seines Alters schorfig und voller Furchen war die Kälte wich, und stattdessen der Saft im Stamm nach oben flutete, wie es das Meer tut, wenn es ans Ufer gerät. Seine beachtlichen Äste strebten seitlich hin zu den Tischen und Gartenstühlen, an denen sich durstige Wanderer nieder ließen, um sich ein Päuschen zu gönnen. Er war Zeuge so manch verliebter Blicke, wie auch jener, denen das Bier zu Kopf stieg. Er sah die Bedienung in ihrer weißen Schürze, wie sie Tablett um Tablett unter ihm an die richtige Stelle bugsierte, und lauschte der Kapelle einer Feuerwehr, deren große Kesselpauke ihm so manche Blüte verfrüht aus der Knospe riss.
Wenn etwas Wind aufkam, trennte er sich von den vielen seiner weißen Traumflocken, die er zum Anlocken der Bienen wie einen Schleier um sein knorriges Haupt trug, was insofern grotesk aussah, als ein Schleier nun nicht gerade für einen Greis stand, der sich noch mit einer starken Stütze soeben vorm Umfallen behelfen musste. Als Kind war er der ideale Kumpel, um auf seinem schrägen Stamm nach oben zu klettern, eine Verzweigung zu suchen, und von hier nicht mal den Boden zu sehen vor lauter Blüten, so dass ich mich in einer Entfernung zum hellblauen Himmel, wie zum Kies des Gartens im Blütentraumland befand.
Umsummt und schwerelos.
Stammgäste fanden unter ihm ihren Platz, und reservierten den Glücksbeschützer für sich für ein paar Stunden am Tag. Sie sahen es ihm nach, wenn eines der Blätter in ihren Bierkrug fiel, oder auf eine der Schinkenplatten aus der Hausschlachtung. Der Apfelbaum fand sich in bester Umgebung zum nahen Garten, wo mehrere solcher Sträuße zu glänzen wussten, wenn es Mai wurde. Wenn die letzte weiße Flocke sich endlich entschloss zu Boden zu schweben, nahm er sich in seiner Aufmerksamkeitserregung zurück, und entwickelte zwischen den sattgrünen Blättern das, was man einen Roten Boskop nennt. Er nahm sich Zeit dafür, und ließ die der Gäste unter sich verstreichen, ließ sie kommen und gehen, und manchmal drehten sie sich noch einmal zu ihm um, als würde er imstande sein zu winken.
Wenn das Rot seiner inzwischen gereiften Früchte im Herbst durch den Fruchtzucker Wespen anlockte, wurden die Gäste am Tisch unter ihm weniger, und brachten sich vor ihnen woanders in Sicherheit. Noch einmal, wenn der Herbststurm an den Zweigen riss, die grauschwarzen Wolken sich gegenseitig unterschiedlichen Zielen zuschoben, wenn es niemand mehr gab, der einen Platz draußen suchte, fiel er zurück in ein Nachsinnen, verlor Blatt um Blatt, und stand bald da, wie ein seiner Kleidung beraubter Bettler, dem alles genommen wurde. Doch das war nur das, was man sah, während in ihm der Prozess seinen Anfang nahm, der schließlich irgendwann zu einem Tag im Mai wurde, an dem ein Kind seiner Einladung folgte, ein paar Momente mit ihm zu teilen, in Weiß unter einem hellblauen Himmel, der sich hinter unzähligen Blüten versteckte.