Der Text
Nur wenige Monate nach der Wende planten wir einen Ausflug unserer Wache bei der Flugsicherung als Radwanderung. 25 Räder wurden in Wismar für zwei Tage gemietet, eine Unterkunft im frischen Bundesland Mecklenburg Vorpommern reserviert. Auf unseren "Reiseleiter" Gustav war Verlass. Er hatte alles im Griff, wenn es um Planung und Organisation solcher Ereignisse ging. Der wilde Haufen freigelassener Lotsen und Assistenten versammelte sich am Treffpunkt einer ehemaligen Kaserne, und bezog die Zimmer, in denen noch der Duft mehrfach genutzter Socken hing, die die Wende in der politischen Waschtrommel noch nicht mitbekommen hatten.
Ein Erkundungsausflug sollte schon am nächsten Morgen in der Früh beginnen. Die Ersten waren schon wach, oder besser noch wach, als sie sich schwer atmend von den Sitzbänken vor der Herberge erhoben, um sich ihren Rädern zuzuwenden. Um 2 Uhr nachts war der nahen Gaststätte das Bier ausgegangen, um drei die Zigaretten. Man war noch nicht auf solche Urlauber eingestellt, und ernährte sich vom Fischfang. Der Fischer, dem die Kneipe jetzt gehörte, konnte sich gar nicht auf Lotsen einstellen, die endlich einmal nach Lust und Laune den anstrengenden Dienst vergessen konnten. Er zeigte sich am Morgen nur kurz mit geröteten Augen im hinteren Bereich seiner Kneipe, um beim Anblick alter Gesichter sofort wieder zu verschwinden.......
Endlich ging es los! Eine Kette erlebnishungriger, unausgeschlafener Ausflügler bewegte sich nah der Küste, und warf Blicke aufs Meer zur Linken und auf Buchenwälder zur Rechten. Durch die frische Seeluft setzte bei den meisten die Erkenntnis ein, dass es hier schön war. Dann wurde es noch schöner. Ein Stopp bei der nächsten Restauration zwang uns bereitwillig aus dem Sattel, bisher ohne Ausfälle oder Pannen. Einer der Lotsen hatte einen Höhenmesser dabei, dessen Gebrauch auf Meereshöhe nur selten zum Einsatz kommen sollte. Reiseleiter Gustav hatte die Tour so geplant, dass es genügend Stopps gab, wo Proviant aufgenommen werden konnte. Frische Seeluft machte hungrig. Matjes Brötchen waren in einem Dörfchen in einem kleinen Laden zu haben, und schmeckten ausgezeichnet. Dass der Fisch in Salz die letzten Tage nach seinem Ableben zubringen musste, hatte natürlich deutliche Auswirkungen auf das Durstgefühl!
"Geh mal rein und bestell´ 50 Bier!" Es war die bescheidene Bestellung, die ein Auserwählter dem ungläubigen Wirt antrug, während er ein kräftiges Stühlerücken auf der Terrasse wahrnahm. Später berichtete er von dessen Gesichtsausdruck, der unbezahlbar gewesen sein soll. Die direkten Auswirkungen der Wende wurden hier und jetzt spürbar, wo sich um die Zeit des Sozialismus nur ein Pferdefuhrwerk vorwärts mühte, prosteten sich jetzt laute Menschen zu. Aber es sollte sich auch der Aufschwung Ost zeigen, der in einer nietennagelneuen Toilette am Rande des Radweges zeigte. Es handelte sich um ein Reet gedecktes Gehäuse, das den erhobenen Ansprüchen männlich Notbedürftiger vollends entsprach. Eine Westfirma hatte sich mit kräftiger finanzieller Unterstützung ein Oststandbein geschaffen, das statt Geld sogar Gold abwerfen würde.
Am Tag vor der Abreise schlug das Wetter um. Die erholungsbedürftig gestresste Lotsenschaft war zudem nach einer Massenpanne durch gestreute Reißbrettstifte am Rande der Urlaubsreife. Dabei ging ein ganzer Vormittag mit Flickzeug drauf. Starker Wind und Dauerregen jagte uns praktisch wieder in die Herberge. Der Wind stand steif in unseren Regencapes, und blähte uns fast entgegen der geplanten Fahrtrichtung. Reiseleiter Gustav erreichte drei Schachteln Rothändle später als wir unser Quartier und reiste frustriert vorzeitig ab.
Doch ganz im Innern blieben wir trocken und durstig, dachten an die nächste Tour, und schmiedeten bereits Pläne, dass es eine Makrelen Tour sein sollte. Angeln auf See mit steuerfreiem Bacardi und genug Fassbier. Im nächsten Jahr sollte ich die Planung übernehmen, und tat es.