Text 141/622

Titel
Der Damm
Der Text
Der Schlängel Bach entsprang irgendwo oben im Wald, unterquerte eine Straße, eine weitere, durchfloss zwei Teiche, und trat dann ins Freie. Dort suchte er sich seinen Weg am Fuß der Felder, und verschwand irgendwo in der Nähe des Friedhofs eines Nachbardorfes, wo alles verschwand. Im ersten Teil seines freien Weges durchs Feld wurde er zum Blickpunkt für uns Jungs. Sein Wasser war immer eiskalt, auch im Sommer. Im Winter gefror er zu einer Testfläche für Jungs Stiefel, die darauf prüften, welche Laute er sonst noch von sich geben konnte, außer einem an- und abschwellenden Glucksen.

An steilen Seiten wagten sich seltene Pflanzen, hangelten sich herab auf seine bewegte Oberfläche, und genossen scheinbar überglücklich das Leben. Im lehmigen Grund sahen wir gelbliche Steine, die wir uns heraus holten, und von ihnen behaupteten, es wäre Bernstein. Zeit verbrachten wir an ihm, in ihm, und mit ihm. An einer Engstelle sollte ein Damm entstehen. Etwas, das ihn hinderte zu schnell weiter zu fließen, und stattdessen den rückwärtigen Teil aufzustauen, bis hin zur Straße. Wir rissen Grassoden aus der Böschung, gaben zur Festigkeit Feldsteine hinzu, und schafften es bis zum Nachmittag erste Erfolge sichtbar zu machen. Scheinbar selbst verwundert verringerte er seinen gewohnten Marsch durchs Feld, und stieg zu einer beachtlichen Höhe an. Manchmal wehrte er sich chancenlos, versuchte einen Durchbruch an schwacher Stelle und ließ uns schnell Steine schleppen....

Es gab nach ein paar Tagen Bewohner. Molche, Salamander und Lurche, kleine Drachen, denen wir wohl einen Spielplatz gebaut hatten. Auch Fische, die sich unter Blattwerk versteckten, wenn sie uns kommen hörten. Wir waren tags nicht leise und abends nicht sauber. Niemand hielt uns auf, bis auf einen Jagdpächter, der uns immer wieder mal auf den Senkel ging, weil er nicht alles für gut hielt, was wir toll fanden.

An einem Sommertag lagen zahlreiche Fische in unserem Hausteich, den der Bach in einem Umweg durchquerte, tot an der Oberfläche. Ein Bauer hatte seine Düngesäcke aus Papier in den Bach geworfen, weil er sie nicht mehr brauchte. Offensichtlich gab es ein Umweltbewusstsein, das damals noch kaum ausgeprägt war. Wir waren traurig, als wir sie heraus holten und begruben. Wenige Jahre später legte man große Röhren in die Bach Senke und ließ ihn unterirdisch laufen. Das Feld darüber wurde als Ackerfläche genutzt. Es hatte sich ausgegluckst, ausgelebt, ausgestaut, und die Feldstraße neben ihm mit den zahlreichen Schlaglöchern wurde geteert. Schlaglöcher, in denen sich das Wasser sammelte und im Winter gefror, die sich anhörten wie zerspringendes Glas, wenn wir sie zertraten.

Mit kleinen Stiefeln und hellwach offenen Augen.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Ja