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Titel
Der Chef
Der Text
Der Umgangston im Alltag prägt bereits in frühen Kindertagen das spätere Verhalten. Als gutes Beispiel haben wir gleich gegenüber eine fünfköpfige Familie mit drei Kindern im geschätzten Alter von drei, vier und sechs Jahren. Mehr oder weniger freiwillig werden wir Ohrenzeugen moderner Erziehung im neuen Jahrhundert.

Hier eine Momentaufnahme:

Der Chef, (der Kleinste), schaut der Schwester beim Schaukeln zu und stellt Berechnungen über das Schwungverhalten des Brettes an, das an den langen Tampen einer soliden Schaukel angebracht ist. Wenn man das unbesetzte Brett in dem Moment anschubst, wenn die Schwester gegenüber an der richtigen Stelle steht, vielleicht trifft man sie ja damit im hübschen Gesicht. Er stellt fest, dass seine Berechnungen verdammt gut waren, und hört ihr Geschrei auf dem raschen Weg ins Haus zur ersten Hilfe. Er handelt sich nach sanfter Ermahnung durch die Tür eine Rüge ein.

Der Weg zum Abendbrottisch ist manchmal sehr lang. Ich zähle fünf erfolglose Aufforderungen, die alle mit den Worten enden: "Ich sage das jetzt das letzte Mal." Der Chef hat eine bestimmte Art des Protestes. Sie beginnt in mittlerer Tonlage, steigert sich aber gewaltig, bis Mutter fürchtet seine Rachenmandeln gleich im Vorbeet wiederzufinden.

Der Älteste ist da ganz anders. Seine Art der Befehlsverweigerung ist eher passiv und geräuschlos. Erkennbar aber an der Ansprache durch den Vater: "Frieder, würdest Du Dich bitte an deinen Punkt unserer Verabredung halten?" Ein Antrag, der vom Angesprochenen verschiedene Stufen der Prüfung durchlaufen muss, um ihm zuzustimmen. Ich sehe Frieder schon auf einem Wahlplakat der Grünen unter dem Titel "Ihr nächster Bürgermeister ohne Wenn und Aber!", oder Frieder sei mit Euch!

Vom Mädchen sieht man nicht viel, hört sie aber deutlich bei Besuch von Oma und Opa, die den gleichen Nachnamen haben: Omaguckmal, Opaguckmal. Durch die massiven Guckorgien sind sie bald erschöpft und schauen auf diverse Geschenke an Großspielgeräten, die alle auf ihren Einsatz warten. Sie werden um 19:48 Uhr das Gelände verlassen. Die genaue Zeiteinhaltung ist bei allen Absprachen wichtiger Bestandteil.

Während ich seinerzeit mir die glühend heiße Wange von einer Backpfeife durch den Vater kühlte, weil ich nicht seinen Anweisungen gehorchte, höre ich das werbende Gezirpe der Mutter um die Gunst des Chefs, der zum wirklich, aber wirklich allerletzten Mal doch bitte zu Tische kommen möge. Aber wozu auch? Im Kasten gibt’s Sandkuchen!
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein