Der Text
Geschickt hatte sie sich eine ganze Woche an Bord des Segelschiffs versteckt. Ihr Weg an Bord gelang über einen dicken Tampen, der sie zum Vordeck führte, von dem aus sie fortan unsichtbar wurde. Sie spürte jede Bewegung des Paares, und wusste stets wenn es brenzlig wurde entdeckt zu werden. Sogar das Fressen verbot sie sich unter diesen Umständen, obwohl ihr Hunger von jedem Tag an zunahm. Die beiden Skipper waren ahnungslos....
Am Abend vernahm sie die lauten Geräusche des Motors, der angelassen wurde, um die Yacht in den kleinen geschützten Hafen von Cala Ratjada zu jonglieren. Zahlreiche weitere lagen dort bereits, sowie auch Ausflugsboote, mit denen man verschiedene Tagestouren unternehmen konnte. Aus ihrem engen Versteck hätte sie beobachten können, wie das Paar schließlich das Boot verließ, um die üblichen Formalitäten zu erledigen, vermied selbst jetzt auch nur ihren Kopf zu zeigen. Sie wartete auf den Einbruch der Dunkelheit, um sicher über das dicke Tau auf die höher gelegene Kai- kante zu gelangen. Beim Anblick dieses Manövers hätte man an einen Knoten im Tau denken können, eine Verdickung, die sich langsam vorwärts schob.....
Selbst in dieser Entfernung zur Promenade konnte man das Gemurmel der Menschen hören, die in einem unablässigen Strom an den Lichtern der Promenade irgendeinem Ziel zustrebten, oder einfach die jetzt etwas kühlere Luft genossen, die über die Masten streifte und Zugang zu den gedeckten Tischen der Restaurants fand. Irgendwie wusste sie, dass sie hier unerwünscht war, gejagt werden würde, dass nach ihrem Leben getrachtet wurde seit Anbeginn ihrer Existenz auf einer kleinen Insel im Mittelmeer. Dieses Wissen trug sie in sich, und war eine Art Lebensversicherung vor allem, was um sie herum passierte. Eine Versicherung, in die nichts eingezahlt wurde, und der Tod am Ende der Abrechnung wartete....
Jetzt galt es den kurzen Weg von der Steinkante bis zu den Netzen der Fischer zurückzulegen, die in einem bunten Gewirr zwischen dem Weg und der Hafenmauer umher lagen. Ausnahmsweise beeilte sie sich dabei und fand ihn in drei bis vier Sprüngen, bevor sie durch die Maschen schlüpfte, aus der sie ihre Schnauze schob, um das neue Terrain zu erkunden. Es roch nach getrockneten Fischschuppen und Blut, nach Tang, und wenn sie es wissen könnte nach harter Arbeit. Hinzu kam vom Lichtermeer der Flaniermeile ab und an etwas Feinwürziges aus Gegrilltem, und der Geruch von Fisch, Fisch, Fisch...
Ihre Gier nach Fressbarem stieg, sodass sie speichelte, dass es bis auf ihre Krallen tropfte. Die Menschen benutzten ihre Wege. Sie hatte ihre eigenen, die manchmal direkt unter dem Pflaster verliefen, manchmal in Kanalrohren, oder still gelegten Abflüssen, in denen es stickig war und stank, in denen ab und an ein Opfer ihrer Art lag als Zeuge eines Kampfes. Eine Art Darknet, das so ganz anders war, wie das erhellte darüber, über das die Touristen in die Boote stiegen, um die Insel vom Wasser aus zu erkunden. Sie selbst hatte noch keine weitere Ratte gesehen, war aber sicher, dass sie nicht unbemerkt geblieben war. Jeder hinterlässt Spuren, fremde Spuren....
Ein Minenfeld breitete sich aus, auf dem jeder Tritt der letzte sein konnte. Sie wusste, sie war nicht allein. Ein Heute-auf-Morgen-Leben mit trügerischer Zukunft. Einige hundert ihrer Artgenossen machten sich zu dieser Zeit auf, schwärmten in ihre bevorzugten Fressgebiete, die weit unterhalb der schneeweiß gedeckten Tische lagen, auf denen oft die Sangria tiefrot leuchtete.
Längst hielt sie es in den Netzen nicht mehr aus, war vorsichtig im Schutz der Dunkelheit ihrer entwichen, und hinkte an der Kante zur Schutzmauer wie ein Obdachloser, der noch etwas für die Nacht suchte, eine Bleibe, einen Rest des vergangenen warmen Tages, von dem es nur zahlmäßig viele gab. Wenige aber mit einer Sättigung des knurrenden Magens, der sich jetzt beharrlich bei ihr meldete.
Ihr schäbiges gelb schwarzes Fell trug dieselbe Farbe wie die Steine der Schutzmauer des Hafens von Cala Ratjada, derselben Mauer, die vor Monaten das schwere Unwetter teils nicht heil überstand, und vom Meer weggefegt wurde. Wer genau hinsah, bemerkte heute die Ausbesserungsarbeiten, wer vom Schiff kam, die Steinquader, die als Wellenbrecher aufgehäuft davor zusätzlichen Schutz gewähren sollten. Auf der gegenüberliegenden Seite reihten sich die Restaurants aneinander, die Tres 3 hießen oder Euforia, Pasta Pasta oder Noah, oder Cafe Royal am Beginn der Gabriel Roca, die bald in die Colon überging, bis hin zur Avida America, und zur weithin schimmernden Son Mol. An einer Bahn, die wie ein beleuchteter Nachtzug an einem stillen Beobachter vorbeizuziehen schien.
Gleich zu Beginn ihrer ersten Wanderung in der nähe der Polizei und der daneben liegenden Fischcompanie erblickte sie ihren ersten Müllcontainer. Einen schwarzen Klotz mit schweren Eisenverschlüssen, die aber oft aus Unachtsamkeit noch eine Spalte frei ließen. Gerade einmal so breit, dass sich ihr mittlerweile magerer Rattenkörper durch sie hindurch zwängen konnte, ohne dass sie darin gefangen war. In ihm stieß sie auf das, was in schwarzen Plastiksäcken von der fetten Gesellschaft als Abfall bezeichnet wurde, und in irgendeinem Verbrennungsofen landen sollte. Viel zu schade, befand sie, und wählte zwischen Pizzaresten und Kalbsknochen, zwischen Fischköpfen und Kaffesatz neben Zigarettenkippen.....
Ihre feine Nase führte sie zu den Köstlichkeiten, von denen sie schon während ihrer Reise als blinder Passagier geträumt hatte, und darin sogar den Kiefer auf und ab bewegte. Sie war nicht allein....Im selben Container wühlte eine andere Ratte nach Fressbarem, blickte über einen der Plastiksäcke in ihre Richtung und verhielt sich auffällig anders, als es normalerweise der Fall gewesen wäre. Der Grund: Sie war blind, seit ihr bei einem Kampf durch die Krallen einer Gegnerin beide Augen ausgekratzt wurden.
Von außen drangen die schaurig schrägen Laute verschiedener Gruppen von Jugendlichen, die ihren Inselaufenthalt als Dauerbesäufniszeit vernebelten bis hierher. Ihre Geschmacksrichtung hieß Wodka O-Saft oder Rum Cola, palettenweise San Miguel Bier, um danach noch nackt in einen städtischen Brunnen zu springen. Vor der Polizei brauchten sie, wie die Ratte, keine Angst zu haben. Das Erscheinungsbild der Ordnungsmacht war spärlich bis nicht vorhanden. Sie hatte andere Interessen und mied alles, was zuvor mit Alkohol in Verbindung war.
Ihr weiterer Weg führte sie ins Dunkel der östlichen Seite der Insel. Zuerst noch auf einer Parallelstraße, der Sant Roc, die auf die Joan March zulief. Am Fuße der Villa March, die hoch über der Stadt ihre eigene Geschichte in den Nachthimmel schrieb. Einen weiteren Müllcontainer verließ sie mit mäßigem Erfolg etwas unvorsichtig. Statt an ihm sich herunter zu angeln ließ sie sich von der oberen Kante einfach fallen, und erzeugte das Geräusch, das sie sonst vermied. Ein gedämpftes Ploppen durch den mittlerweile prall gefüllten Magen.....
Die Katze war eine, die eigentlich zu der Gruppe in der Cala Gat gehörte, einer kleinen Bucht mit Sandstrand am Ende des Küstenwegs, der linkerhand aufragende Felsformationen sehen, sowie gleich daneben rechts das Meer hören ließ. Hoch oben fingerten jede Nacht die Lichter des Leuchtturms aufs Meer hinaus auf der Suche nach Schiffen, die das Licht längst nicht mehr brauchten, um sich zu orientieren. Der Katze war das Geräusch nicht entgangen. Wie üblich blieb sie in solchen Situationen zunächst mäuschenstill. Nur ihr Schwanz verriet in der Dunkelheit einen Erregungsschauer. Augen und Ohren waren auf den Fellball mit dem nackten Schwanz gerichtet, der sich bewusst vorsichtig in Richtung des Lichts, in Richtung des Lebens fortbewegte....
Im Abstand einiger Meter folgte sie diesem Ball und sprang lautlos die Mauer hoch, auf der sie die Ratte überholte, um auf sie zu warten.... Diese sah bereits die Lichter der Flaniermeile, die Lichter des Lebens. Im nächsten Moment der Sprung, das Plötzliche, die Krallen, der Biss, ihr einziger Fehler...