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Titel
Der Fremde
Der Text
An einem Spätsommermorgen stand er da. Etwas seitlich der Brücke, die über den Dorfbach die Erntewagen sicher auf die andere Seite brachte. Der erste, der ihn sah, war ein Bauer, der seine Kühe nach der Nacht überprüfen wollte. Zuerst dachte er an eine Sinnestäuschung, denn um diese frühe Zeit war gewöhnlich niemand außer ihm in diesem Bereich des nahen Dorfes. Um sich zu vergewissern schritt er zuerst schnell, dann langsamer in Richtung des Fremden aus. Er blieb stehen, da er keine Regung der Gestalt wahrnehmen konnte, die ihn gesehen haben musste. Ja, er rief diesen an, was ebenfalls nichts brachte.

Es ging um eine Gestalt, die einen Uniformrock trug, der ihm offensichtlich viel zu weit war. Das Gesicht war verdeckt durch eine Art Kapuze, aber was den Bauern am meisten erschrak, war die Kälte, die von ihr ausging. Selbst auf diese Distanz spürte er einen Schauer, der ihm über den Rücken lief. Er gehörte gewiss nicht zu den Angsthasen im Dorf, wollte aber nicht ganz ohne Begleitung weiter zum Reglosen vorstoßen, und entschloss sich Verstärkung zu holen. Vielleicht wollte sich ja einer im Dorf einen Scherz mit ihm gönnen, ihn testen....? Er hatte keine Feinde, das schloss er aus. Was aber war das, was dort unzweifelhaft stand an der Brücke über den kleinen Bach, der die Felder teilte?

Er beschleunigte seine Schritte und erreichte das erste Haus des Dorfes, an dessen Tür er schlug und den Nachbarn weckte. Schließlich waren sie zu Dritt, die den Beschreibungen des vollständig Verängstigten folgten. Als sie die Stelle erreichten, wo die Gestalt hätte ins Bild treten müssen, war da nichts als eine Brücke über einen kleinen Bach, der die Felder trennte. Sie gingen sogar zu der angegebenen Stelle aber fanden keine Spur. Nicht einmal Fußabdrücke im feuchten Erdreich, keine Spur. Sie sahen ihn an, der sie so früh aus den Betten rief und fragten sich, was das alles sollte?

Dieser behauptete, dass da etwas war, ganz real und unheimlich, und sprach von der Kälte und dem zu weiten Uniformrock des Fremden.

Man schrieb das Jahr 1914. Der Sommer endete am 30. Juni, dem Tag des Attentats auf den Thronfolger und seine Gattin. In die überschäumende Freude ganzer Völker, dass endlich etwas zu geschehen habe gegen die Übermacht des Feindes, mischte sich nur ganz selten die Kälte, die an diesem Morgen in der Gestalt des Fremden spürbar war, auch wenn es niemand glauben wollte.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch