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Titel
Das Rad der Tante
Der Text
Wer abgeschieden lebte, wie ich in meiner Kreidezeit an der Schultafel, ging zu Fuß die fünf Kilometer hin und zurück, oder dachte langsam darüber nach ein Fahrrad zu benutzen, was die reine Wegstreckenzeit halbieren würde. Im Winter nutzte ein Rad sowieso nichts, da der Schnee oft meterhoch alles verwehrte, was zur Schule wollte. Es waren die Verwehungen, die mich aufs ebene Feld ausweichen ließen, denn die Straße lag gehörig tiefer. Irgend eines Tages hatte mein Vater wohl Mitleid mit mir und redete am Tisch von einem längst pensionierten Drahtmonster, das beim Rückzug der deutschen Armee aus dem Osten zwar nicht die Gefangenschaft verhinderte, so doch aber alles andere, wie den Beschuss durch Tiefflieger. Es erwies sich also als kriegstauglich, warum nicht auch als friedenstauglich?

"Wir können es ja mal ausprobieren," sprach das Oberhaupt, worauf ich an das dachte, was irgendwie immer im Weg stand nah bei der Kartoffelkiste im Keller. Es war komplett platt und hatte Roststellen an Rahmen und allen Flächen, wo Metall verarbeitet wurde. Nach nicht einmal einer halben Woche werkelte Vater so lange daran herum, bis er sich die geklemmten Blutquesen an den Fingern mit kalten Kompressen kühlen musste. Das Rad wehrte sich, und wollte wohl in die ewigen Jagdgründe eingehen nach all dem Erlebten. Es hatte allerdings einen Schönheitsfehler. Aus dem Vorderreifen ragte der Fahrradschlauch so weit heraus, dass er mit der Gabel jeweils in Berührung kam, wenn der Wulst an ihr vorbei sauste. Am Anfang aber gab es ganz andere Probleme. Ich war noch nie Rad gefahren.

Geduld war etwas, was mein Vater in Sibirien während der Gefangenschaft gelassen hatte. Er kam mit 43 kg als Nervenbündel zurück und versuchte mich aufs Rad zu setzen. Der Weg von Füßen zum Boden war weit, und so hielt es mich immer so lange wie der Meister der Ungeduld mich hielt. Dann fiel ich um. Er zeterte wie ein Pferdezüchter bei der dritten Scheinschwangerschaft seiner Zuchtstute, und erklärte mich für komplett unfähig. Schließlich brachten wir es gemeinsam auf einige Meter, wo er parallel zu mir fuhr und mich quasi schob. Danach fiel ich um. Wir beschlossen so weit zu fahren, bis am Ende der kleine Hang blieb, den ich herunter fuhr und erst dann umfiel. Immerhin ins Gras. Zur Schule war es so, dass ich mir vorher überlegte, wo ich umfallen würde, um nicht noch mehr zum Gespött meiner Mitschüler zu werden.

Der Gesundheitslenker, (verbogene Stahlrohre mit Griffschalen), zwang meine kleinen Arme zum Spagat, die Klingel war im Krieg geblieben. Der Gepäckträger war ausklappbar, und reichte für einen Sack geklauter Kartoffeln. Eine Beleuchtung wurde damals mit der Todesstrafe belegt, wenn man sie nachts einschaltete und fehlte sicherheitshalber. Erstaunlich allerdings war die Haltbarkeit des Fahrradschlauchs. Immerhin geriet er bergab dermaßen in Wallung und in Hitze, wehrte sich aber gegen das Platzen. Bis eines Mittags um 12 Uhr. Ich weiß es noch so genau, weil Probealarm der Sirenen im Ort war. Und während der kurzen Pause zur Entwarnung entschloss sich der Leistenbruch, dass es Zeit wurde zu platzen. Irgendwie passte alles zusammen. Der Alarm, der verrostete Kriegsflüchtling, ich mit dem hochgestellten Tornister im Kartoffelkorb hinten und die armen Passanten, die kurz in Deckung gingen. Die restlichen Kilometer schob ich das Rad schließlich über den letzten Hügel und wartete etwas bangend auf meinen schlecht gelaunten Vater, der noch auf der Arbeit schuftete.

Heute schaue ich auf Kinder mit Schnuller, die ihr Handy bedienen, während sie mit den Hochzüchtungen frühkindlicher Fahrradgestelle herum fahren. Schon im Gleichgewicht aber noch mit Windel. Und nicht nur sie haben es leichter. Beim Brötchenholen am Wochenende sah ich vor mir eine betagte Dame mit einem Rollator, der sogar eine Klingel hatte! Damit kann sie sich ihren Platz in der Warteschlange frei klingeln und ist im Vorteil. Früher war also doch nicht alles besser!
Typ
lustig
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein