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Titel
Das Dachfenster
Der Text
Es war nur ein kleiner Ausschnitt im großen Dach des Hauses der Großeltern. Man schaute gewöhnlich nicht heraus, da es sich um den riesigen Raum oberhalb der Wohnräume befand, und nur mir vorbehalten war die Welt da draußen zu erleben. Etwa für eine Stunde gleich nach dem Mittagessen ging es stracks nach oben in ein klappriges Bettgestell mit dem immer kalten Oberbett, unter das ich mich zu verkriechen hatte, während man sich um andere Dinge unten kümmerte, denen ich offensichtlich im Weg sein würde. Alle hatten dann ihre Ruhe, und anders als alle empfand ich es als Strafe hier sein zu müssen. Zwischen den frei liegenden Dachpfannen blinzelte an sonnigen Tagen die Sonne hindurch, und fand sich wieder in allerlei Gerätschaften, Werkszeug, Wannen und Kleidung, die woanders keinen Platz fanden. Und mit diesen fühlte ich mich in einer Art Gesellschaft, die noch dazu verfeinert wurde durch den Duft der Räucherkammer ganz hinten in einer entfernten Ecke.

Das Bettgestell war direkt unter diesem Fenster, so dass ich oft den weißen Wolken ein Stück folgen konnte, die so schnell wieder am Rand verschwanden. Ich kann nicht einmal sagen, dass ich dabei eingeschlafen war, oder nur wach träumte, wohl aber, dass mich die Andersartigkeit jeder Wolke überraschte. Keine glich der anderen, und manche waren schneller als die darüber dahin fahrenden, was einem Rennen gleichkam, dessen Ausgang ich verpasste. Aufstehen und Nachschauen verboten sich durch meine noch zu kurzen Beine, und außerdem waren da Spinnweben, die ich misstrauisch nach Erbauern absuchte. Ich war aufgeregt und schätzte die Zeit, wenn wieder nach mir geschaut wurde, um mich zu wecken. Schlafend stellte ich mich gern, wenn jemand nach ober kam und zufrieden auf den schlafenden Engel schaute...

Dass dieser durchaus auch zum Teufel werden konnte geschah einen Tag nach Buß- und Bettag, dem Tag nach der Hausschlachtung. Man nutzte den Dachboden zum Trocknen der Kochwürste, die fein säuberlich ausgebreitet auf Leinentüchern drapiert waren, und sich nicht weit vom Bett befanden. Unter ihnen das Kostbarste: Die Sülze, die in der Schweineblase mit so viel Feingeschmack hergestellt wurde, dass immer wieder nach ihr verlangt wurde in der Waldgaststätte der Großeltern im Erdgeschoss.

Es kann sein, dass mir diese große Liebe etwas zu ungerecht verteilt war, und man sich nicht genug um mich kümmerte, jedenfalls erlebte ich meine Oma in einem einmaligen Tobsuchtsanfall, als sie mich wecken wollte, und alles zertrampelt herum lag. Reste der Sülze fand sie unter den Dachpfannen...Ein wahres Schlachtfest hatte ich veranstaltet, und die Prügel wohl verdient. Die Mittagsruhe wurde kurzerhand abgesetzt, und ich durfte weiter spielen, draußen weiter meinen "Geschäften" nachgehen, die man so pflegt im frühen Kindesalter.

Was aber geblieben ist, ist die Mittagsruhe heute noch. Es ist wie damals kein Schlaf, sondern eher eine Ruhe zur Hälfte des Tages, die ich auf keinen Fall missen möchte, und eigentlich könnte ich mir mal wieder etwas Sülze gönnen auf frischem Brot, und den Blick auf ein paar Wolken, denen ich so gern folge, bis sie einfach so verschwinden.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein