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Titel
Das Foto
Der Text
Die Kamera hatte er immer dabei. Nicht nur bei Sonnenschein, sondern auch nachts oder bei Bedingungen, bei denen an alles andere als an ein Foto des Jahres gedacht werden könnte. Meist machte er sie mit seiner alten Freundin, einer Spiegelreflex mit verschiedenen Möglichkeiten, was die Auswahl der entsprechenden Linsen anging. Längst waren herkömmliche Handys in der Lage hervorragende Fotos zu produzieren, er bleib bei seiner alten Liebe.

An jenem verregneten Mittag waren nur wenige bereit sich dem Regen zu stellen und trotzdem unterwegs in der Stadt, um sich Schaufenster anzusehen. Darauf hatte auch er es abgesehen. Schicke Auslagen wollte er einfangen für eine Serie, die er angefangen hatte. Der Zufall spielte eine große Rolle, als er die Spiegelreflex aus der Tasche holte und dabei war sein Motiv auszusuchen. Er achtete dabei nicht auf den Regen, nicht auf die Dame mit Schirm, die hinter ihm stoppte, um auch ins selbe Fenster zu blicken und anscheinend auch nicht auf die immer noch manuell gestellte Entfernungseinstellung. Ein Versehen, das nicht oft passierte, worüber er sich später anfangs noch ärgern würde.

Als er den Auslöser betätigte, bemerkte er den Fehler augenblicklich, würde die Einstellung aber schnell wieder korrigieren, und wenn es an die Entwicklung ging, die er perfekt beherrschte, das verschossene Foto einfach entsorgen. Sehr bald schon würde er diesen unbedeutenden Augenblick vergessen, und auch den restlichen Nachmittag, der verregnet blieb. Als er nach einer Woche sich an die Entwicklung machte, und zur verschossenen Aufnahme kam, zeigte das diffuse Bild eine Schaufensterauslage durch die Scheibe, das durch die falsche Entfernungseinstellung nicht anders sein konnte, und dann etwas Unglaubliches, etwas, das ihn den Atem anhalten ließ...

In einem Wassertropfen, der wohl von der Rinne oberhalb des Geschäfts gefallen war, spiegelte sich eine Frau mit Schirm. Die Dame passte perfekt in den Tropfen, während die Auslage den Rahmen eines verregneten Tages abbildete; diffus, undurchsichtig, Alltag, und dem gestochen scharfen, spiegelverkehrtem Bild im Tropfen hoffnungslos unterlegen.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein