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Titel
Das Fenster
Der Text
Es waren sechs Scheiben. Quadratisch von altem Eisen die Fassung, die sie allesamt im Laufe der Jahre durchaus hätten verlieren können. Es waren sechs Scheiben, die auf den grob gepflasterten Hof in die eine Richtung spähten. Die andere zeigte das Innere der säulenhohen Scheune. So lange ich denken kann waren sie stark beschlagen. Es war ein milchig staubiger Belag, der sich unweigerlich auf sie legte, solange man sie nicht einmal versuchte zu reinigen. Diesen Versuch hatte wohl niemand unternommen, denn es gab wahrlich Wichtigeres zu tun auf dem Bauernhof mit seinen dreißig Kühen, Schweinen und Hühnern, deren individuelle Ausdünstungen im ganzen Dorf die Duftnote prägten wie es Lavendel tut, wenn man über die Provence redet.

Neben dem großen Holztor wirkte es winzig, ja überflüssig, denn wer schaute jemals hindurch, denn das Tor war nie ganz verriegelt, so dass jedermann herein oder heraus kommen konnte. Als es eingesetzt wurde, kam es von der nahen Dorfschmiede. Es war das Gesellenstück eines Lehrlings, der es in seiner größten Stunde dem Meister stolz präsentierte, der sich für Winkel und Kanten interessierte, und seinen Schliff gegen die tief stehende Sonne eines Herbstmorgens hielt. Man konnte es weder öffnen noch schließen und nur, wenn wir endlich erwachsen sein würden, würde es uns einen Blick erlauben auf die Kuhreihe, die Schweineboxen, und das aktuelle Treiben hinter den Ziegelsteinmauern.

Die Ruhe des Fensters wurde nur einmal gestört. Es war in den Dreißigern, als das ganze Dorf mit Hakenkreuzfahnen geflaggt war, und die Rundfunksender auf laut gestellt wurden, um die schneidende Stimme des Führers in jeden Winkel zu lassen. Der alte Bauer machte aus seiner anderen Meinung kein Hehl, stritt sich erbittert mit seiner gesamten Familie, und riss nachts die Wahlplakate von den Eichenstämmen. Nur durch seinen guten Ruf im Dorf hatte er Glück noch am Leben zu sein. Einer hatte einen Stein geworfen, mit Papier umwickelt, auf denen die Worte gekritzelt waren: "Heinrich, wir wissen wie Du denkst!"

Während der Kriegszeit hielten sie stand, als einer der Bombennotabwürfe den Rand des Dorfes traf, und sie nur kurz erzitterten. Heinrich kehrte aus dem Krieg zurück, betrieb den Hof mit den Entbehrungen der Zeit, und wird wohl tausendmal durchs Tor gegangen sein, ohne auch nur einen Blick aufs Fenster geworfen zu haben. Es wird die Zeit gewesen sein, als sich das Efeu am Mauerfuß seinen Weg suchte, das Fenster in seine Arme nahm und es liebevoll umwarb. Bald war nicht nur der Rahmen unsichtbar, sondern auch die sechs Scheiben. Das Licht, welches die tief stehende Sonne ins Innere der Scheune warf wurde diffus, die breiten Streifen, die den Staub sichtbar machten wie Glitzerstreu, dieses Kunstwerk war bald nicht mehr zu sehen. Es verschwand wie die Nachkommen Heinrichs, die in die Stadt zogen. Nachts lag die Scheune jetzt in völliger Dunkelheit, denn kein Licht drang nach draußen, das es bisher immer schaffte zu zeigen, dass da etwas ist.

An bestimmten Tagen fanden Flohmärkte statt. Auf manchem sah ich verrostete Relikte alter Bauernhöfe. Fenster herausgerissen aus ihren Verankerungen, die Scheiben entfernt, nicht aber ihre Vergangenheit, der ich auf der Spur war.

"Darf ich mal sehen?" Der Verkäufer freute sich schon auf ein Geschäft. Ich aber hielt es nur gegen die tief stehende Sonne und wartete darauf, dass es mir seine Geschichte erzählte.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch