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Titel
Das Lädchen
Der Text
Heute sind sie verschwunden. Die kleinen Läden mit den alten Frauen hinter dem Tresen, die im Fenster stapelten, schichteten, irgendwie organisierten, dass es gesehen wurde von außen durch die fleckige Scheibe. Wer etwas Geld in der Tasche hatte, drückte sich an ihr zuvor die Nase platt, schielte nach den Bonbongläsern, den Lakritzschnecken und Nappos. Ich hatte immer mehr Magensäure als nötig, um mit den paar Pimperlingen eine gewisse Beruhigung zu erreichen.

Den Eintritt verriet eine heisere Glocke, die mit allerletzter Kraft Laut gab, und so etwas wie eine letzte Aufgabe auf dieser Welt hatte. Als sie gefertigt wurde, war wohl auch Frau Hake auf die Welt gekommen, der der Laden gehörte. In ihr Sortiment gehörte alles, das kleiner als der einzige stationäre Mähdrescher im Dorf war, aber süßer als alle Kirschen in Juli. Sie trug ihre Kittelschürze von Montags bis Montags, was auch ihr gütiges Lächeln betraf. Wenn ich herein kam, ahnte sie schon meine Wünsche, schraubte an einem der Gläser den Deckel ab, und ließ den Himbeerduft heraus, der sich mit dem Mief des Stapels Bildzeitungen mischte, am Tabak vorbei es bis zu meiner Nase schaffte, unter der sich schon im Mund der Speichel sammelte.

Ihre schnarrige Stimme entsprang einem faltigen Hals, auf dem der gerötete Kopf nickte, als wäre sie ein Huhn, das nach einem Korn suchte. Sie trug Dauerwelle. Alle trugen Dauerwelle. Sie nahm Lottoscheine an von Leuten, die im Dorf wohnten, von denen niemals ein einziger auch mehr als vier Richtige erzielte, aber alle von mehr träumten. Sie kamen von ihren kleinen Feldern mit erdbraunen Nägeln, wischten sich die Hände an der Hose ab, und machten ihre immer gleichen Kreuze am Glück vorbei. Die Frauen kauften Stoffe, um sie daheim zu nähen, und Wolle für den Winter, die Männer nahmen sich Bier mit Drahtverschluss.

Was man nicht kaufen konnte waren Nachrichten, die über den kleinen Tresen gingen. Bevorstehende Hochzeiten, Ungeheuerlichkeiten im Dorfmilieu, Schulnoten, die verglichen wurden mit anderen Schulnoten, und die Wetteraussichten, über die damals genauso geschimpft wurde wie heute. Es war Leben in der Bude, das sättigte. Die Neugier kam dabei gut weg, der Neid. Das Bewusstsein jetzt mehr über den Nachbarn zu wissen als er selbst von seiner Frau ließ die Glocke bimmeln.

Gleich gegenüber war der Schlachter. Weiter oben der Hofladen, ein weiterer Krämerladen, und noch einer am Dorfende. Am anderen Ende lag praktischerweise der Friedhof. Noch vor dem Ortsschild blieb quasi alles im Dorf. Selbst nach dem Tod. Tief verbunden mit ihren Tieren und Feldern verblasste die Idee, dass es nach dem Dorfschild noch eine andere Welt gab, die mehr als Bonbongläser zum Öffnen hatte. Aber soll ich mal was sagen? Kaum einer vermisste es.

Später, als alles auseinander starb, klebte Packpapier bei Frau Hake an der Scheibe, wie an den anderen Scheiben. Als könnte man damit etwas einwickeln, um es geschützt nach Hause zu tragen. Es war die Zeit, die das Dorfleben pflügte. Unbemerkt war sie am Ortsschild vorbei bis zum Ausgang gekrochen. Vorbei am Schlachter und Kriegerdenkmal, wo immer noch alle Namen der Bürger eingraviert zu lesen waren, die das Schild letztmalig passierten, um für den Kaiser, dann für Führer Volk und Vaterland etwas zu erkämpfen, für das es sich lohnen sollte sein Leben zu geben.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein