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Titel
Der Alte und die Bücher
Der Text
Die schwere Tür der großen Bibliothek wurde ordnungsgemäß verschlossen, der Schlüssel verschwand sorgfältig im abgenutzten schwarzen Jacket des Bibliothekars. Er trug es seit Jahren, und wusch es kaum in der Zeit. Insgeheim glaubte er an das Unvergängliche, das man nicht wusch, sonst würde es vergehen. Ebenso wenig folgte er den Empfehlungen seiner Obrigkeit, die ihm ab und an nahelegte, den Bestand an Büchern auf eine überschaubare Anzahl zu reduzieren. Allein schon bei dem Wort zuckte er angewidert zusammen. Was war schon überschaubar?

Nein, er selbst würde niemals ein Buch schreiben. Schon genug damit, dass er der Herr über tausend Bände war, die jetzt, nachdem die Tür ins Schloss fiel, eng aneinander gedrängt Seit an Seit standen. Sie schienen auf Augen zu warten, die über die Zeilen flogen, auf eine warme Hand, die die Seiten neugierig wendete. Der Alte sah in ihnen weitaus mehr als nur bedrucktes Papier. Es waren für ihn fest gehaltene kleine Welten, die sich unbemerkt weiter drehten, wenn das Buch wieder an seinem Platz stand. Er selbst sah sich als ihr Hüter, als ihr Freund.

Seit er wusste, dass seine Zeit gekommen war, schlief er schlecht. Sein Abschied stand vor der Tür, das Institut hatte ihm einen dementsprechenden Brief geschrieben. An einem seiner letzten Berufstage ging er hin, und zelebrierte eine Art Abschied. Er strich mit der Hand über alle Buchrücken, die erreichbar waren, und wer ihm sehr nah war, würde den Glanz in seinen Augen sehen, der anders als sonst nicht aus Freude entstand.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Ja