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Titel
Bordeaux
Der Text
"Das, was ich sah, war nur die Schale."

Sie hatten ein Thema auf dem Tisch zwischen den zwei Rotweingläsern. Ein 94er Bordeaux stand bereit. Versteckt lag er jahrelang in der hinteren Ecke des Kellers, bis er jetzt sein Rot versprühen durfte.

"Aber waren die Augen nicht zuverlässig genug, um zu unterscheiden?"

Ihre raue Stimme kratzte sich an ihm, und er meinte ein Kräuseln auf der Oberfläche des kleinen roten Sees im Weinglas zu sehen - als ob sich etwas bewegen würde, das es auslöste, wenn sie weiter sprach.

"Die Augen waren immer nur das Tor, das mehr oder weniger offen stand."

Wie weit geöffnet waren ihre Augen in diesem Moment? Bemerkte sie seine Unruhe durch sie, die von einem pechschwarzen Wimpern Paar bewacht wurden?

"Welchem deiner Sinne hättest du mehr vertrauen sollen?"

Sie sah ihn direkt an und spielte mit Daumen und Zeigefinger am fein geschliffenen Stiel des bauchigen Glases.

"Es soll einen Sinn mehr geben als die bekannten..."

Sie mochte es, wenn er ihr auswich, nicht direkt antwortete, Andeutungen machte.

"Hast du Viele kennen gelernt?"

Wollte sie es wirklich wissen, oder brauchte sie seine Antwort, um ihre stille Eifersucht zu verdecken?

"Im Grunde nur eine Einzige!"

Selbst wenn er log, war er charmant. Er verpackte es in etwas Belangloses, das nicht lohnte näher betrachtet zu werden. Ein Geschenk, das die lose Verpackung von außen bereits verriet, eine noch ungeborene Lüge.

"Kannst du sie vergessen, oder behältst du immer etwas von ihr bei dir?"

Ohne auf seine Antwort zu warten, erhob sie sich und ging zur Anlage, um eine neue CD einzulegen. Sie spürte seine Augen, wie sie ihren Rücken nach Spuren abtasteten, nach Überraschungen unter dem Satinrock. Kleine, hungrige Augen, die unter dem sichtbar gespannten Stoff ihre Haut aus der Unsichtbarkeit befreiten.

"Ich war oft an der See. Erinnern kann ich mich an die unfassbare Weite und an den feinen Strich, der sich vergeblich mühte, Himmel und Meer auseinander zu halten. Es ist mit Ihr so gewesen, meist wenn wir schwiegen."

Sie hatte aus ihrer Sammlung eine CD gewählt, von der sie annahm, dass sie zur jetzigen Stimmung passte.

"Magst du den Wein?"

Er spürte, dass sie die Antwort nicht sonderlich interessierte, während sie sich über das Abspielgerät beugte. Er vermutete, dass sie unter ihrem Kleid eine glutheiße Haut hatte, und diese eine weitere. Es galt alle zu ertasten.

"Zu Zweit schmeckt er besser, als was ich bisher kennen gelernt habe. Man hört klugerweise im richtigen Moment aber auf zu trinken."

Nach dem nächsten Schluck spürte sie die Wärme der französischen Westküste.

Arcachon

Der Strand wie mit dem Lineal gezogen. Ein Sand-Endlos, das sich irgendwo am Spätnachmittag verlief. Die Wellen des Atlantik kamen regelmäßig, stiegen in ihren Gedanken hoch, bis sie brachen.

Seine Hände machten einen Ausflug zu ihrem Glas, an dessen Stiel sie spielte. Bevor er sie berührte war sie aufgestanden, hatte sich hinter ihn gestellt und tippte mit ihren Fingerkuppen auf seinen Nacken. Er vermutete, dass ihr Nagellack jetzt zu schmelzen begann, als wäre es ein Rest von Schnee.

Unerträglich langsam öffnete sie den obersten Knopf seines Hemdes, das seinen Halt überraschend schnell verlor.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch