Text 95/648

Titel
Bücherleben
Der Text
Irgendjemand hatte sie in eine Reihe gestellt. Nicht nach Farben, nicht nach Grössen. Sie waren eingeteilt nach Sachgebieten. Reiseführer stand neben Reiseführer, Abenteuer neben Abenteuer und Bildbände, gross und unübersehbar im Regal wachten darüber, dass nichts zusammenfiel oder verrutschte.

Auf ihren Rücken, schmal und zum Leser gewandt, stand von unten nach oben oder umgekehrt, manchmal sogar so, dass man den Kopf nicht drehen musste, der Titel. Er gab das an, was drin war im Buch.

Irgendjemand sagte einmal: Die beste Tapete ist eine Wand voller Bücher. Ein anderer hatte nur Buchrücken gekauft, ohne Inhalt, keine einzige Seite erdacht, geschrieben und verlegt, nur so zum Ansehen. Einer künstlichen Blume gleich, nett gemacht und haltbar. Wurde dann Staub gewischt, war´s derselbe Aufwand wie bei richtigen Büchern, nur dass es hohl klang. In Möbelläden wurden diese Hohlfabrikate gern als Füllmaterial genommen, um die Regale mit "Leben" zu bereichern.

Was aber passierte, wenn es "richtige" Bücher waren? Bücher mit Inhalt, von namhaften Schriftstellern, von Menschen, die nichts anderes taten, als ihre Träume aufzuschreiben, und dann noch das Glück hatten, dass sie gekauft, gelesen und verstanden wurden? Von anderen, die sich in diesen Träumen wiederfanden, ein Stück mitgingen und neugierig waren wie es mit dem Traum weiterging?

Waren sie sehr neugierig, vielleicht sogar regelrecht süchtig, hatten sie viele dieser "Bücherfreunde" in mehr oder weniger grossen Regalen untergebracht. Es waren diese Ansammlungen, die etwas möglich machten, woran kaum jemand jemals gedacht hatte.

Das Buch stand beim Händler, wurde gekauft, gelesen und weggestellt. Wenn es Glück hatte, machte es noch eine grosse Urlaubsreise mit und ab in´s Regal. Es lebte also für eine kurze Zeit wieder auf. Geschriebenes von noch lebenden oder schon längst verstorbenen Schriftstellern, wurde im Kopf des Lesers wieder lebendig. Es gehörte ihm. Gab es etwas Lebloseres als ein Buch zwischen vielen? Hörte man irgendein Wort, wenn man eine Bibliothek betrat, das aus ihnen kam? Man hörte nichts ausser dem Umblättern, wenn ein Interessierter sich damit beschäftigte.

Doch alle Bücher haben eine Seele. Viele Dinge haben sie. Steine, Eisberge oder Schiffe haben sie. Doch sie offenbart sich nur demjenigen, der Zugang zu ihr findet, der sie versteht. Sie hält Einzug in ein Buch von der ersten Seite an, vom ersten Gedanken des Autors. Sie lebt zwischen den Zeilen, sitzt in den Sätzen.

Was aber passiert, wenn der Mensch verreist ohne seine Freunde? Kann nicht etwas sein, von dem niemand etwas ahnt? Ist wirklich alles so ruhig, wie es scheint? Betrachten wir einmal eine Gemeinschaft von Reiseerlebnissen und Landkarten, alleingelassen mit sich selbst. Kann man als Reiseerlebnis jemals allein sein? Niemals auch nur für einen Moment.

Kaum ins Regal gestellt, beginnt ein reger Austausch von Informationen. Eine Erzählung, in eine Reihe geschoben, die ohnehin schon sehr eng ist, erfährt als erstes, dass sie sich nur ja nicht so breit machen soll als Neuankömmling. Aufgeregtes Zusammenzucken der Bücher, wenn ein 450 Seiten Roman seinen Platz einnimmt. Drei der Bergsteigerbücher begrüssen ein viertes in ihrem Club und sind gespannt auf Neuigkeiten.

Als ein Duden dazugestellt wird, werden einige der anderen ganz still! Wer gibt schon gern zu, dass er in sich einige versteckte Fehler hat? Gut, dass er ganz unten steht und nicht jede der Seiten der anderen sehen kann. Es ist wie eine Gemeinschaft, gar nicht still, sehr lebendig und traurig, wenn einmal ein Freund verliehen wird und nicht wiederkommt.

In der Reihe der Kinderbücher ist manchmal der Teufel los. Mühelos schafft es ein Kinderkrimi, alle anderen in seinen Bann zu ziehen. Welches Betteln darum wie die Geschichte weitergeht, wenn Ruhe einkehren muss. Nur wir selbst hören nichts davon. Absolute Ruhe, wenn wir davorstehen. Mit unseren Augen nehmen wir die Geschichten auf und lernen jedesmal ein wenig dazu.

Sollte eines Tages einmal ein Buch für Bücher anstatt für Menschen geschrieben werden, wären die Seiten leer. Sie verstehen sich eben von Seele zu Seele, brauchen sich nicht anzufassen, um zu wissen, dass es sie gibt, und überhaupt würden sie sich viel besser verstehen als wir alle zusammen. Es liegt nur daran, dass sie im Gegensatz zu uns wissen, dass alles was zwischen den Zeilen steht das ist, was zählt. Und das ist oftmals mehr, als man schreiben kann.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch