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Titel
Autofahrer - ein Ländervergleich
Der Text
Schon Johann Wolfgang von Goethe hätte seine Italien Reise bestimmt lieber bei "Nix-wie-weg-hier.de", als in einer Postkutsche gebucht. Heute reicht das Umdrehen eines Zündschlüssels aus, wo damals die Rappen erst einmal in Schuss gebracht werden mussten....Aber hat ihn die lange Reise eigentlich gestört? Bekam er nicht erst durch die eher beschauliche Langsamkeit Ideen zu seinen so wundervollen Gedichten? Wem fällt wohl heute ein Gedicht auf der A57 ein, wenn er im Stau steht?

Wie aber reagiert ein Engländer, ein Deutscher oder ein Italiener auf die Bewegungsbremsen der Neuzeit?

Der Deutsche erkennt den Stau schon, wenn er noch gar nicht vorhanden ist. Sein Denken ist so angelegt, dass er als Erster am Stau ankommen möchte. Durch Rundfunkdurchsagen braucht er im Ruhrgebiet nicht lange zu suchen. Das Reizverschlussverfahren kostet er in vollen Zügen aus, lässt keinen rein, und dann ergibt er sich je nach Typ in sein Schicksal. Von mir oft beobachtet allerdings die Hektik im Innern des Gefährts mit Kennzeichen direkt aus der Umgebung. Je näher der Wohnort, desto schmerzhafter das Rumstehen. Er dreht beide Scheiben runter und beginnt reichlich Konversation. Es fallen Namen aus der politischen Landschaft wie "Ramsauerei", oder Worte des Zorns. Seine Kinder hält er im Fond in Schach, indem er ihnen mit Aussetzung droht in einem Gebiet ohne Internetzugang....

Der Engländer mit eigener Karosse hat den Vorteil, in Deutschland nicht viel vor ihm mit zu bekommen. Rechtslenker haben schlechte Karten beim Blick auf die Gegenspur. Das macht aber rein gar nichts. Er ist seit Urzeiten gewöhnt, sich hinten anzustellen. Seit sich der Kontinent von der fort getriebenen Insel verabschiedet hat, bildete sich ein eigenes Völkchen heraus, das den Stau zur Religion gemacht hat. Sie würden sich sogar vor einem Hochhaus hinten anstellen, wenn der Erste den Schlüssel sucht. Hier eine mögliche Konversation innerhalb eines Rechtslenkers:

"Honey, do me a favour, have a look, if there´s a chance for us to overtake the bastard in front of us, to get home in autumn!"

Wörtliche Übersetzung: "Honig, sei so gut und schau, wie wir den extrem langsam fahrenden LKW vor uns überholen können, so dass wir vor Weihnachten wieder im Königreich sein können".

Eine mögliche Antwort könnte lauten:

"Lovy, the bastard left us 10 minutes ago already, you may proceed quite as normal!"
Wörtliche Übersetzung:
"Du Penner, der Lastwagen ist vor 10 Minuten abgefahren, fahr einfach so wie immer!"

Engländer leben in der Vergangenheit. Schon die Gegenwart ist ihnen zu viel Zukunft. An ihren verquirlten Nummernschildern kann man alles sehen. Die Blutgruppe des Fahrers, sein Geburtsdatum, sowie die Grafschaft, die für die Verschrottung des Autos zuständig ist. Sie machen gern Pause. Und was, wenn nicht der Stau, bietet soviel Publicity. Die neuen Deckchen für den Campingtisch, die Dreibeinhocker für den Stau ab 5km, das Lunchpaket aus cakes with hidden rasins und "Tetley Tea" from the bags.

Ganz anders Lucio, der Sizilianer. Um seine 110jährige Mutter und ihre Enkel, Ur- und Ururenkel zu ernähren, hat er sich einen Kastenwagen in einen Lastkastenwagen umgebaut. Er fährt nonstop eingezwängt zwischen 200 Apfelsinenkisten, 40 kg geselchtem Schweinespeck, und einer wilden Horde Knoblauchzöpfen von Palermo bis zum Dreieck Ahlhorner Heide nonstop durch. Theoretisch. Deutsche Autobahnen haben Schlafbaustellen.

Das sind Baustellen, die anstatt des Fahrers schlafen. Monatelang. Lucio, der Sizilianer, wird nicht nervös, das ist er ohnehin schon aus reiner Natur. Was, wenn die Apfelsinen austreiben vor Weihnachten, der Speck nach Salz ruft? Er klettert nach oben aufs Dach und schaut, wie seinerzeit Napoleon, auf die Türme Moskaus. Deutschland ist ein weites Land, das seine Zeit braucht...

Zur gleichen Zeit hätte Goethe an seiner Feder gekaut, um sich einen Reim drauf zu machen...

So gesehen ist die beste Zeit des Autos schon vom Tag der Erfindung an vorbei. Seine Vermehrungsrate weltweit ist aber ungebremst, denn was, wenn nicht der Stau, könnte dem Ganzen einen Sinn geben? Zu Goethes Zeiten brauchte man nicht mal auf den Rücken des Pferdes zu steigen, um zu sehen, warum es nicht weiter ging, und Baustellen waren noch schrille Zukunftsmusik...
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch