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Titel
Blatt für Blatt
Der Text
Jetzt beginnt es wieder, das Kopfsenken verblühender Gladiolen, die doch soeben noch sich dem Sommer entgegen reckten, als wenn er sie küssen sollte. Gleich nebenan ereilt das Schicksal eine Plantage aus Sonnenblumen zum Selbstpflücken. Wie sie da standen und über Lieblosigkeit klagten, wenn einer vorbei ging und die daneben nahm. Ins Irgendwohin, nur weg von hier unter allen anderen, die sich immer dieselben Geschichten erzählten. Immerhin gab es ein Leben nach dem Verblühen, wenn es von einem Vogel als Kern im kleinen Magen verschwand. Heute war wieder so ein Tag. Die abgeernteten Felder färbten sich braun, nachdem nur noch die Strünke des Mais nach dem Massaker sinnlos herum standen, und der Bauer mit dem Pflug darüber hinweg ging, als wäre da vorher nicht Leben gewesen....

Die Ordnungsliebhaber begannen besorgt unter die Gartenbäume zu schauen, unter denen sich Laub sammelte. Bunt, als könne es seinen Weg in die Tonne durch diesen letzten Charme verzögern. Die alte gebückte Dame mit ihrem kleinen Garten ging anders damit um. Bei ihr durfte es liegen bleiben. Vielleicht dachte sie dabei an sich selbst, die gefallen, noch nicht von dieser Erde wollte, um noch einmal den aufsteigenden Bodennebel am Morgen zu sehen und dabei etwas empfand. Auch der vergängliche Duft des Herbstes, der dem des Frühlings in einem glich: seiner Art des Wandels in eine neue Zeit. Den meisten, so wage ich zu behaupten, werden solche Belanglosigkeiten nichts sagen. Sie denken an ihre Termine, an die nächste Bahn, die es zu erreichen gilt, und trauern um den schwindenden Sommer. Aber einige werden sich die Zeit nehmen inne zu halten, einzuatmen, und der früher einsetzenden Dämmerung etwas abzugewinnen. Ein gewisses Ausbremsen statt auf dem Gas zu bleiben.

Wem das gelingt, wird nichts gegen ein bauchiges großes Glas mit Rotem gefüllt probieren, ob er auf der Zunge die Reife im Fass heraus spüren kann, die Zeit des Wartens auf diesen Moment. Wie es das letzte Blatt beabsichtigt die Party als letztes zu verlassen, und der Sturm es ihm verspricht.
Typ
Weisheit
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein