Text 69/638

Titel
Balmaha Schottland
Der Text
Morgens, wenn noch kaum jemand auf den gewundenen Straßen des kleinen Ortes war, wenn kein Licht hinter den Sprossenfenstern den Weg nach draußen versuchte zu finden, und das Loch unsichtbar unter einer Decke lag, die jemand gebreitet hatte, um seinen Besitz anzumelden, morgens setzte er sich auf einen Fels. Dieser fiel steil ab ins Wasser, das er ahnte, aber nicht einmal hörte. So still war der unsichtbare See zwischen den schottischen Bergen, deren kahle Köpfe beim Sonnenlicht auftauchten, und mehr und mehr den Blick freigaben auf das Loch, ein voll gelaufenes Becken, dessen Tiefe man nicht nachfragte.

Das Dorf lag höher am Hang. Gerade einmal so hoch, dass es ausreichte, kurz oberhalb der nebligen Decke zu sein, deren Verschwinden unseren Beobachter so interessierte. Als Physiker, als Wetterkundler hätte man ihm erklären können, was hinter dem Unsichtbaren steckte, und wie es entstand....Das interessierte ihn am wenigsten. Er saß da, und spielte mit seinen Gedanken, die zu kleinen Ereignissen wurden, die zu kleinen Geschichten und die zu Mythen, bevor sie sich wieder zurück zu Gedanken schrumpften.

Auf fast allen Höhen um das Loch war er gewesen, hatte eine nach der anderen erwandert, sich blutige Füße geholt, war atemlos von der Anstrengung, und mehr noch vom Anblick, wenn er sich kurz vor Erreichen des Gipfels umdrehte. Das schlanke Band aus Wasser und Sonnenstrahlen, die grüngelb fleckigen Hänge auf der gegenüberliegenden Seite, die kleinen Autos am Rand des Wassers. Der Wind, der sich in seinen wirren Haaren fing, und in sein rotes Gesicht fragte, was er hier wolle?

Und auf die Frage, wohl vorbereitet, nichts anderes zu antworten wusste als:

Weil ich dich liebe.

Worauf der Wind ihm den Mund zu hielt, so stark war er, und nicht hören wollte, da es ihm keine Mühe machte so stark zu sein hier oben, und er die Antwort ohnehin nicht verstand, so laut war er. Er blickte auf die hellen Punkte zwischen den Felsen, und wusste um das Glück der Schafe, die hier sein durften tags wie nachts, die sich ums Fressen und um ihren Nachwuchs kümmerten. Mehr nicht. Kam hier jener Gleichmut her, der sie bis hin zum Tod still halten ließ, in unglaublicher Ruhe alles zu ertragen, bis hin zum Verlust ihres Pelzes?

Bis sich der rauchige Schleier vom Wasser hob, als gelte es ein Denkmal zu enthüllen, würdevoll dem Ereignis angemessen, saß er hier und sah den kommenden Tag, wie er die gewundene Straße entlang kam, seine Hand mehr oder weniger rau auf seine Schulter legte, um ihn zum Mitgehen aufzufordern. Bis zum Abend, wo er sich jetzt bereits auf einen Schluck Whisky freute, der ihm Zunge und Hals brannte für jenen kurzen Moment, für den er gemacht war, auf den er gewartet hatte 10 oder mehr Jahre in einem Fass, in völliger Dunkelheit verbringend.

Den Regen, der über alles herfiel, der auspeitschte, bis auf die Knochen durchnässte, wenn er unvermittelt über den Hang kam, den begann er anfangs zu verfluchen, die schroffen Steine nach oben ebenso, und sein Dasein in eine Gegend geboren zu sein, in der so wenig passierte und so viel war, so selten etwas kam, was tags zuvor nicht auch schon da war, in der man sich davon erzählte, welch Lichter eine Stadt imstande war zu erzeugen, den Regen begann er zu schätzen. Er gehörte dazu wie er. Und wollte nicht für Gold gehen, das er doch überall fand, wo der ungeübte Blick versagte, und das Schnelle am liebsten mit der Seilbahn in die Höhe gehoben werden wollte.

Es war früh am Morgen, als er mit dem Nebel aufstand und den Tag mit einer Tasse Tee begrüßte.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch