Text 72/622

Titel
Begegnung
Der Text
Der Tod hatte seine Beine locker übereinander geschlagen und fühlte sich unbeobachtet, auf einem behauenen Stein sitzend, über den das Moos kroch, als hätte es Zeit wie er. Unter den Lebenden hatte er keine Freunde, und unter Seinesgleichen waren alle Worte verstummt.

Ein Impuls hatte mich am späten Abend zu einer Stelle getrieben, von der aus ich ungehindert ins Tal blicken konnte, sah die dunkle Schleife des Flusses, um die sich die Häuser wanden wie die Seidenschleife eines Kranzes.

Ich hatte vor, einen Text über ihn zu schreiben. Ihn, den so präsenten unvorhersehbaren Unbekannten, der im gesellschaftlichen Tabu bis auf die Knochen alles verlor. An meinem Aussichtspunkt angekommen sah ich das steinerne Kreuz für die Gefallenen des ersten Weltkrieges, sah frische Blumen am Fuß der mächtigen Säule, sah den dunklen Hang zum Dorf. Bald hinter dem Kreuz begann die Hecke des Friedhofs, die in eine bröckelnde Mauer wuchs. Alles schwieg.

Was suchst du an diesem Ort?

Im ersten Moment konnte ich nicht entscheiden, ob ich die Frage stellte oder er. Ob er real dort saß, oder es meiner Fantasie entsprang.

Auf wen wartest du?

fragte ich zurück. Wovon lebte er? War er der Erneuerer? Ich begann zu frieren. Die Einsamkeit des abgelegenen Ortes, seine Stille, die Anwesenheit des so außergewöhnlichen Gastes, alles machte die Kälte aus, die mich erfasste.

Siehst du die Mauer dort?
Seine Knochenhand zeigte in die Richtung, wo die Hecke in die zerfallende Mauer wuchs.

Sie ist von euch gemacht, nicht von mir. Ich kenne keine Mauer die vor mir hält, keine Grenze. Ich kenne keine Kälte noch Wärme, ich kenne keinen Schmerz. Ich bin!

Er sprach langsam, und seine Worte hallten etwas von den Steinen wider, als ob noch mehr von seiner Sorte da waren - unsichtbar im Hintergrund.

Lies die Zahl laut vor!

Er deutete auf den Beginn und das Ende des Krieges.

1914 1918

Es gab für mich noch andere Siege, größere als alle dieser Zeit. Den Größten feiere ich täglich....

Wie meinst du das?

Es ist der des Vergessens. Ihr lernt nicht und seid leichtsinnig.

Noch ehe ich daraufhin meine Einwände erheben konnte, war er verschwunden....

Aus dem Tal drang der Klang eines Martinshorns. Ein Kind war in den Fluss gefallen. Er hatte es plötzlich eilig.....
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch