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Titel
Augen
Der Text
Ein Stück Haut an einem der unzähligen verlorenen, verdorrten Zweige erregte seine Aufmerksamkeit. Es klammerte sich an einen der Büsche im unwegsamen Gelände Afrikas. Ein Gelände, in das wohl niemand vordringen würde, hätte er nicht einen Grund dafür. In diesem Fall handelte es sich um einen der Schafhirten auf der Suche nach einem Jungschaf, das der Herde nicht folgte.

Nusri, wie man den Hirten rief, war auf der Suche, während die Herde mit mehreren anderen Hirten weiter zog. Er lauschte in die Stille der Eintönigkeit eines Mittags und erwartete nichts. Vor sich breitete sich die Geröllsteppe bis hin zum Horizont, und verband sich farblich mit einem Himmel aus lauter Langeweile. Hier und da wagten es ein paar Büsche sich zu behaupten, und wäre man nach ihrem Aussehen gegangen, lag nicht viel Hoffnung auf Leben in ihnen.

In der Vergangenheit fand er das eine oder andere Schaf wieder, ein Büschel Wolle , eine Losung, ein entferntes Blöken, dessen Spur er aufnahm und belohnt wurde. Heute blieb jede Spur aus. Fast, möchte man sagen, bis auf die Haut...

Er pflückte das Stück vorsichtig aus niederer Höhe vom Zweig, prüfte es in seiner Hand, und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass er nie zuvor etwas Ähnliches sah. Eine gelbliche, verblichen abgewetzte Haut, die sich gebogen zeigte und als interessantes Detail an seinem Ende ein Auge bedeckt haben musste, ein sehr sehr großes Auge. Ein Frösteln durchfuhr ihn augenblicklich, etwas, das in dieser Hitze ganz ungewöhnlich war. Er malte sich das Wesen aus, das sich seiner Haut entledigte, um mit einer neuen auf Beute zu gehen....

Wenn sich ein ganzes Tal in seiner Mittagsruhe schlafend zeigt, kein Wind etwas bewegt, fällt es auf, wenn ein Busch ganz in der Nähe sich anders verhält. Er blickte auf einen Busch, der keine 10 Meter von ihm stand, und bemerkte in seinen oberen Zweigen eine Bewegung, die nicht vom Wind verursacht werden konnte.

Im Moment vergaß er, warum er eigentlich hier war, und beschäftigte sich mit der Haut in seiner Hand und der unerklärlichen Bewegung nicht weit von ihm. Zwei Fragen in einem Moment, im Vergleich zur alles und immer erklärenden Eintönigkeit afrikanischer Melancholie.

Vielleicht hätte er diese Sekunden nutzen können, um sein Leben zu retten.... Aber jetzt kam etwas anderes hinzu, das ihn faszinierte. Es waren ein paar kugelförmige Steine, die am Fuß des Strauches bewegungslos in Nichts starrten. Grau und versteppte Blasen, die mit allem und jedem in seiner Nachbarschaft einher gingen wie mit einem Freund an der Hand. Doch sie waren voller Leben, das nach Beute trachtete.

Später, viel später, sollten Hirten ein paar Spuren von Häuten an Zweigen finden, die in der Gegend jetzt häufiger auftauchten und ein paar runde Steine mehr bemerkten, die sich an den Füßen von Sträuchern auf ganz eigene Art fokussierten, auf ganz endgültige Art ihrem Ziel zuwandten....
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch