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Titel
Bahnhofgegend
Der Text
Der Mensch war leer. Leer wie die meisten Einwegflaschen, die in Blechbehältern der Bahnhofswände lagen und ihren Zweck erfüllt hatten, bevor sie endgültig recycled wurden. Mit suchenden Augen sah er täglich ins Dunkel, ob vielleicht doch noch ein wenig gelassen wurde von dem, was mal war. Was er austrinken oder essen konnte, tauschen oder für die Nacht zum Zudecken. Er sah in den Blechbehältern ein Loch, durch das er hätte hindurch kriechen können, wenn er nicht so aufgeschwemmt sein würde. Er war zu groß und schwer für diese Welt geworden, und sie für ihn. Er trug denselben Mantel wie beim letzten Zuschlagen der Tür damals. Einen zu dünnen für den Winter und einen zu dünnen für den Sommer, was aufs selbe herauskam. Seine Socken hatten sich mit der Zeit verlaufen, seine Schuh hielt er sauber, wusste aber nicht für wen.

Er war es gewohnt aus den Bahnhofshallen gewiesen zu werden und empfand einen Tag, an dem dieses nicht geschah als einen guten Tag. Solche Tage gab es, doch es gab ja noch die Nächte, die ihre Dunkelheit über die dünnen Mäntel breitete, unter denen es rätselte - nach dem Warum? In ihnen träumte er die Farben, die seine zwei Kinder ihm schenkten, in ihnen träumte er, wie schnell er sie verlor und glaubte weder das eine noch das andere sei wahr gewesen. Eben ein Traum.

Auf seiner Haut brannten sich die Sommer ein wie auch der Frost. Es bildeten sich Blasen, über die er einen Ärmel schob, wenn er eine Hand ausstreckte. Seine Schuhe hielt er sauber. Die Sohlen ließen das Wasser ein, doch das sah niemand. Ebenso wie ihn. Sein Haar war geweißt, und seine Barthaare wetteten, wie lang sie noch werden konnten und wer dabei gewinnt.

Meist saß er mit dem Rücken zum Stein des Bahnhofs, hatte eine kleine Blechdose neben sich gestellt, in die ab und an ein Stück Geld fiel. Es war Geld, das man hören konnte. Es knisterte nicht wie die Scheine der Großen und nicht wie große Scheine. Es waren eher Münzen gegen das Gewissen, die zumeist entweder von Kindern nach Bedrängen der Eltern oder von alten Menschen den Weg zu ihm fanden. Er ließ immer etwas in der Schale. Ein kleines: Seht mal, ihr seid nicht allein, wenn ihr mir was gebt. Er blickte dann nach oben in das Gesicht dessen, der es warf und erzeugte ein Dankeschön mit einem misslungenen Lächeln. Seine Steuererklärung bestand nur aus der Rubrik außergewöhnliche Belastungen, in die er sich selbst eintrug. Er war nicht absetzbar.

Er sah die anderen verbrauchten Mäntel, den Senf und die Asche in ihnen, einen Schlaf auf dem Deich in Grün. Er hatte die verfluchte Gabe noch gut zu sehen und blickte manchmal neidisch zum Blinden. In den Augen der Vorbeigehenden sah er ihre Probleme, mit denen sie über ihn hinweg schritten wie über eine Hinterlassenschaft, der man auszuweichen hatte, wollte man nicht etwas mit ins Haus nehmen, was unsauber war.

Wie ein Baum sein Laub verlor, verlor er das Geliebte, in einem Sturm seine Frau und suchte nach den Kindern. Er wollte in eine bessere Stadt, in eine bessere Haut. Eines Morgens weckte ihn ein Streuner, indem er ihm mit seiner nassen Schnauze durchs Gesicht fuhr. Eine Zeitung war verrutscht, eine Schlagzeile, mit der er sich bedeckte und die jetzt sein Gesicht freigab. Ein paar Tage blieb er bei ihm, gab ihm Fellwärme, und er ihm dafür ein Kraulen. Dieser Hund verließ ihn, weil er nicht satt wurde vom Kraulen allein. Einmal sah er ihn noch. Es war beim Vorbeifahren einer Straßenbahn. Zwischen zwei Waggons sahen sie sich, weil sie etwas halten musste. Nachdem sie weiterfuhr, war er verschwunden.

In großen Schaufenstern der Kaufhäuser erblickte er einen Umriss, nicht sein Gesicht. Dazu reichte es nicht. Vielleicht, dachte er einmal, war das ja der Rest von ihm, der noch da war. Eine Art Rand, neben dem das Leben weiter lief. Verschwommen, benommen. In der Mitte aber, wo er einmal war lagen die Stücke zum Verkauf, ausgewiesen mit Preisen, angepriesen durch Rabatte, die in Schlussverkäufen auf buntem Karton fluoreszierten. Er mochte diese Stellen nicht, die etwas von ihm sichtbar machten, ihm seinen Rand zeigten.

In einer der Jackentaschen sammelt er Tabak weg geworfener Zigaretten. Streichhölzer, die noch nicht abgebrannt waren fand er selten, eine ganze Schachtel seltener. Auf den Zeitungsseiten stritten sie um Macht, ein Krieg im Kaukasus, Hunger in Afrika, ein, zwei Bomben am Körper, der nicht mehr taugte als jemand anderen mit zu reißen, aufgeblähte Lippenschönheiten in Silikonbalkone gefasst, Mode aus Mailand.

Unter seinen Fingernägeln sammelten sich die Reste der Tage aus den Tonnen, der Dreck der Stadt, die ihm das Sie bot, weil das Du zu persönlich gewesen wäre. Dennoch lebte er, klebte Erinnerungsbilder einzelner Stunden aneinander und sah am Abend den schlecht geschnittenen Film mit seinen Fehlern. Aus den Türen der Kinos, die sich nach der Vorstellung öffneten, strömten es heraus, drückte ihn schwatzend zur Seite, während er Popcorn roch, das ihn wieder an seine Kinder erinnerte....

Irgendwann fand er den Zettel mit einer Telefonnummer darauf. Lange Zeit wusste er nichts rechtes damit anzufangen, wusste nicht einmal, wie sie in die Tasche geraten war oder wem sie galt. Bis er es herausfand. Er warf ein paar Münzen in den Schacht und hörte ein Klingeln. Er wollte schon auflegen, sah auf seine Schuhe, als sich eine Kinderstimme meldete. Sie nannte Vor und Nachnamen, der ihm bekannt vorkam, ihm aber fremd klang, weil er ihn lange Zeit nicht mehr gehört hatte.

Es war sein eigener.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch