Der Text
Ich werde dich, Sommer, nicht darauf ansprechen. Keine Vorwürfe wegen deiner Unpünktlichkeit erheben. Bin ich nicht selbst häufig unpünktlich, hält mich nicht oft etwas auf? Dass du dich nicht an den von Menschen erfundenen Kalender hältst, kann ich dir nicht vorwerfen. Deiner sähe anders aus. Du wirst schon wissen, warum du ausweichst nach allen Richtungen und den Regen hier lässt anstatt einer Sonne, auf die sich alle so freuten nach einem Winter mit hohem Schnee.
Darf ich nicht deshalb gerade träumen vom Lärm am Beckenrand eines gefüllten Schwimmbades, an den unterschwelligen Duft von Chlor und Heckenrosen, von Zitroneneis und einem kurzen Schlummer unter der Kastanie? Von einer Tüte Pommes mit Salz und Mayo und Salinos? Du schweigst dich still in den Herbst – stimmts? Du lässt die Wetterberichtbestatter abendlich zu Grabe tragen und schon Hoffnung machen, wenn sich vormittags vorübergehend die Sonne zeigen soll. Ich kann das ganze Gejammer nicht mehr hören. Natürlich will das Kind in Grömitz mal aus dem gelben Regenmantel raus und der Strandkorbverleiher seinen Zweitwagen bezahlen können. Klar schmeckt bei Hitze Malaga besser als Matjes, und der Hund riecht nicht nach totem Fuchs.
Das Normale ist längst dahin. Schweißtreibende Zugabe Rufe Vergangenheit. Open Air heißt übersetzt: "Es regnet aus einem offenen Himmel!" Die Unterhaltungskünstler stehen im Trocknen und sehen auf die plastikplanierten Zuschauer. Gebucht ist gebucht, sage ich, und spende Griechenland meine Euro. Sie fließen in Gyros, Zaziki und Bauernsalat, während ich mir die Wetterkarte im ZDF nicht entgehen lasse. Eine Art Schadenfreude? Na klar, hätte ja selbst zum Opfer werden können.
Geh, Sommer, geh, und lass mir meinen Herbst, die lebendigste unter den Jahreszeiten. In ihm, in seinen stürmischen Farben, in seiner Ernte sehe ich die Erfüllung. Ich tauschte gern erstickend schwüle Augusttage gegen das Ungestüm einer wirbelnden Blätterwelt, die ihren Platz noch sucht. Ich gehe gern in die Nebel des Herbstes bei Windstille und schaue auf den kleinen Tunnel, den ich hinter mir reiße, bevor er sich wieder schließt.
Geh, Sommer, geh. Und dreh dich bloß nicht nach mir um. Vielleicht könntest du mir noch einen kleinen Gefallen tun und einen der hellen Klaräpfel reifen lassen, einen der leuchtenden, so schnell verderblichen Kerle am Baum, die so sauer sind wie die Strandkorbvermieter oder Eisverkäufer. Ich beiße in sie hinein, und esse sie mit Gehäuse. Meine kleine Sonne, sage ich, und schaue nicht einmal hoch dabei, um die große vergeblich zu suchen.
Gleich darauf nehme ich mir einen zusammen geklappten Stuhl vom Tisch eines leeren Ausflugslokals, und bestelle mir trotzig einen "Merlot" in den Garten. Jahrgang 2008. Ein rostiges Blatt fällt ins bauchige Glas, wie ein schlecht gesteuertes Segelflugzeug eines Prüflings. Eine Wespe zeigt Interesse. Ganz kurz ist aus dem Dunst die Waldhügelkette Thüringens zu sehen, ganz kurz verschwimmen die Zeiten und die Erinnerung. Ganz kurz, wie ein Sommer nur sein kann.
Auf dem Rückweg steht da ein Sonnenblumenfeld. Unnummeriert zum Glück. Jede darf wachsen und blühen, und jede sich nach der Sonne drehen und wenden. Die meisten aber, das muss ich erkennen, schauen zu Boden wie ich, der einmal mehr das falsche Schuhwerk an den Knochen hat, und dem bei einsetzendem Regen die Füße nass werden.
Geh, Sommer, geh.