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Titel
Wiedersehen mit Mozart
Der Text
Ganz entgegen meiner sonstigen Fahrtroute verließ ich die geschäftige Hauptstraße und bog langsam in die Nebenstraße ein. Allein das ließ mein Herz schon etwas höher schlagen. Da standen sie ja noch, die 50er Jahre Häuser mit den überschaubaren Vorgärten. Das letzte Mal fuhr ich hier noch mit dem klapprigen Fahrrad, einmal pro Woche vier Jahre lang zur Klavierstunde. Seither mochte ich keine Donnerstage. Bei der letzten Fahrt überkam mich damals eine Freude, die derjenige nachempfinden kann, dem Klavierstunden ebenso gelegen kamen wie mir. Nach der Schule noch einmal mehr Schule. Bezahlt vom Opa, der in seiner Gaststube ein schwarz lackiertes Monster stehen hatte. Dort, wo sonntags Kaffee getrunken und selbstgebackener Kuchen gegessen wurde.

Immer noch flache Jägerzäune vor den kleinen Rasenstücken, die stets blank geputzten Scheiben, die alt gewordenen Augen der Häuser, aus denen hier und da ein Blick auf die Straße fiel. Im Winter sicherlich die mühsam frei gehaltenen Wege zum Eingang und - Spatzen.

Wie oft fuhr ich zu den beiden alleinstehenden Damen, von der mir eine so herrlich vorspielen konnte, wie ich es einmal können sollte? Fräulein Mayrhofer bekam den Umschlag mit dem Geld vom Opa für den Unterricht an einem "Lieber-Draußen-Spieler".

Ich hielt vor ihrem Haus und war mir etwas unsicher, ob es nicht das daneben stehende war. Sie sahen so gleich aus. An der Pforte schließlich erkannte ich das richtige. Eingeklemmter Finger beim Schließen! Wir sahen uns an. Das Haus mich und ich das Haus. Im ersten Stock mochte es noch stehen, das Ungetüm, doch hielt mich etwas Unbestimmtes zurück einfach zu klingeln, um es wieder zu sehen. Seine schwarzen und weißen Tasten. Den Drehstuhl davor, der meine Nervosität spürte. Im Flur der Geruch nach Wischwasser für die Treppe. Die gesprenkelten 14 Steinstufen bis zur Wohnungstür mit dem winzigen Fenster, vor dem eine gehäkelte Gardine hing.

Wenn sie sie öffnete, lächelte sie mich mit ihrem altersfaltig klugem Gesicht an und sprach im Salzburger Dialekt die Eröffnungsworte:

"Na, hat der Herr fein geübt?"

Sie sollte es schnell herausfinden. Vor mir tanzten die Noten auf den vereinfachten Übungsblättern. Noten von Mozart, meinem Intimfeind. Schubert und Bach taten das gleiche, um meine Freizeit in Stücke zu schneiden. Das Fräulein Salzburg duftete nach Eau de Cologne, das sich mit Heilsalbe mischte, mit Zink und Mullbinden. Dazu der vom verstaubten Sofa, von vergessenen Gardinen und vom nussbraunen Klavier, das unter meiner kleinen Hand still litt. Ihre mehlweißen Haare trug sie stets gebunden zu einem Knust. Aus der Küche flutete verkochter Rosenkohl, von der Straße Kinderlachen. Im Augenwinkel kaum wahrgenommen die andere Bewohnerin, die überstill im Rahmen stand und meinen Bemühungen nah sein wollte.

Es waren unfertige Versuche jenem Genie gerecht zu werden, das es fertig brachte, in Noten zu träumen, während ich eher die Noten entdeckte, die sich mir plötzlich in den Weg stellten. Überraschend jedesmal, wenn die Stunde vorbei war. Ganz ohne Notenheft nahm sie gewöhnlich meinen Platz ein und spielte ein Stück von Mozart, das sie selbst entrückte, ihre kleine Welt hinterließ, und aus dem Nussbaum mit den gespannten Drähten so etwas wie Frühling schüttelte. Die Mahnung zur Erledigung der Hausaufgabe brachte mich dann schnell wieder auf den Boden.

Zum Vorspielen beim Opa kam es nicht so oft, wie er es sich so sehr gewünscht hatte. An Sonntagen zum Beispiel. Zu rot war mein Kopf, zu sehr sprangen die Fehler in den gut gefüllten Gastraum, in dem es schrecklich leise wurde, wenn ich mit den Noten zum Drehstuhl schritt, um Mozart zu spielen. Dabei sollte es nur Begleitung sein, Hintergrund für wichtige Gespräche oder Tratsch aus dem Dorf, ein Lächeln über den gedeckten Tisch. Ich fühlte mich bewertet und beobachtet. Nur Opa zeigte ein gütiges Lächeln, das alles verzeihen konnte. Er selbst spielte im Familienkreis die Mandoline.

Hier stand ich nun mit halb herab gelassener Scheibe vor der Fassade der Gutbürgerlichkeit und wunderte mich im Nachhinein, wie schnell solch Stunden vergingen, wie schnell 50 Jahre vergehen konnten. Mich umarmte die Vergangenheit auf ihre schrecklich eindringliche Art, mit der ich nichts anderes anzufangen wusste, als sie auszuhalten.

Schließlich ließ ich das Haus hinter mir im Rückspiegel verschwimmen und war mir sicher, dass es mir nach sah, wie ich ihm. Es rätselte, welcher Fremde sich interessierte, und es länger als gewöhnlich fixierte. Aus dem abgeschalteten Autoradio lauschte ich Mozart. Eine Klaviersonate, die für den Sonnenuntergang geschrieben war, der dem Duft von Eau de Cologne folgte, und es leicht hatte durch die Gartentür zum Haus zu gelangen. Sie stand wie immer wieder einmal offen....
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein