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Titel
Sweet 100
Der Text
Die Vorderseite zeigt einen reich befruchteten Tomatenzweig, an dem eine ganze Monatsernte Kirschtomaten hängt. Die Tüte zählt zur Preiskategorie 10 von 10. Vorsichtig suche ich nach der Übersetzung für 10.

10 = 4,50 Euro. Der Goldpreis liegt etwas günstiger im Verhältnis zum Gewicht, trotzdem entscheide ich mich zum Anbau der Kirschtomate "Sweet 100". Will sehen, wie sie wuchert und Früchte bildet. Auf Gold kaue ich seit den 80er Jahren jeden Tag herum, aber Tomaten aus dem Garten?

Wenn man sie im Supermarkt kauft, sehen sie wie geklont aus. Hinter Herkunftsland steht nicht die Antwort. Die wird erst drauf gedruckt, wenn alles schon verpackt ist. Meist Holland oder Spanien. Zwei Länder, die in der Sommersonne nur so dahin glimmen. Auf dem Weg zur Küste durchfährt der Tomatenkonsument ganze Regionen von Zeltstädten, die die holländische Tomate vor der sengenden Sonne bewahren. Sie brauchen dann nicht einzeln eingecremt zu werden und können erröten.

Der Aufdruck auf der Tüte empfiehlt, den Inhalt vorsichtig in Saaterde auszustreuen, und nur wenig mit Erde zu bedecken. Den Sack gibt es schon für 4 Euro! Warm ans Fenster stellen und ca. 12- 15 Tage warten....Es handelt sich um eine F1 Hybride, was soviel heißt wie: Finde eine...

Vorsichtig beginne ich mit der Aussaat, Van Gogh würde mich jetzt malen. Es erscheinen etwas widerwillig winzige, aber auch sowas von winzige Körnchen. 5 an der Zahl! Eines fällt auf den Boden – Schwund – die 4 anderen stupse ich in die Erde.

Und wirklich – nach 12 Tagen hebt sich ein zartes Grün wie ein Schüler aus der Bank, der die Klingel nicht mal gehört hat. Ich mache 20 Fotos, wobei zwei Schwächlinge bei einer Macroaufnahme einknicken. Die beiden Überlebenden bekommen am Fenster längliche, zarte Hälse, auf denen zwei Blätter neugierig in die Gegend schauen. Ich soll die Erde immer schön feucht halten. Aus der Gießkanne ziehe ich im Strohhalm Wasser an, und gebe es ins Wurzelbettchen. Es schmeckt irgendwie nach Medizin vom letzten Orchideendünger.

Seit heute Mittag habe ich die Beiden Fine und Line getauft und sie ins Aldi Gewächshaus gestellt, eine Art Umkleidekabine mit Reißverschluss. Heute ist Nachtfrost angesagt. Sein Hauptnahrungsmittel sind Tomaten im Embryonalstadium. Morgen werde ich nach dem Rechten schauen und Sweet 100 Fotos machen....
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch