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Titel
Tauchgang
Der Text
Ich tauchte an einem sonnigen Morgen ganz in der Nähe des Strandes, der nach wenigen Metern steil abfiel, und irgendwo zwischen Hellblau und Dunkelgrün bis in die Finsternis des Meeres versank. Ein Korallenriff hatte sich seit Urzeiten gebildet, sich mit all seinen Facetten an den Steilhang geklammert, hatte Höhlen und Gänge gegraben, in die ich niemals hinein tauchen würde. Jedes Mal wenn ich auf Tauchgang war, wurde ich durch die Farbexplosion der Tier und Pflanzenwelt abgelenkt, geradezu verhext, hatte dennoch alle Sicherheitsvorkehrungen technischer Natur gewissenhaft durchgeführt.

Das Wasser war warm, wurde aber merklich kühler, je tiefer ich mich von der Strömung mitnehmen ließ, die mich unsichtbar wie ein Schatten begleitete, der ich aber keine besondere Bedeutung beimaß. In Harmonie wuselte es neben mir, jagten sich diverse Exemplare nie gesehener Fische, und waren sicherlich damit beschäftigt fürs eigenen Überleben zu sorgen, wenn sie ihre Beute fraßen. Außer ein paar neugierigen Stupsern kleinerer Fische, die mich durch die Taucherbrille kennenlernen wollten, hatte ich bisher keine bedrohliche Situation erleben müssen. Mittlerweile war ich ohne große Kurskorrektur treibend am Riff entlang gekommen, und interessierte mich für eine Anemone, die ich näher betrachten wollte. Erstmals bemerkte ich, dass nicht ich es war, der Fahrt und Richtung meiner Reise bestimmte, sondern das Meer. Das Meer mit seinen eigenen Gedanken und Wegen, die für alle unsichtbar blieben.

Die Erkenntnis nicht stoppen zu können geschah zeitgleich mit einer aufkommenden Panikreaktion fast aller Fische, die zuvor noch ein so friedliches Gesamtbild abgaben. Alle kamen mir entgegen, zeigten sich stark genug gegen die Strömung, und verschwanden bald in meinem Rücken. Wovor flohen sie, was war hinter ihnen her? Was werden sie über das Wesen mit den Flossen und den Luftblasen gedacht haben, das es wagte dahin zu treiben, woher sie flüchteten? Es gab plötzlich den Augenblick, wo ich allein zu sein schien im weiten Rund, wo selbst in meinem Rücken kein Fisch mehr zu sehen war. Ich fror. Beängstigt starrte ich in die Richtung aus der alles kam was Flossen hatte. Das Gefühl plötzlich der Hauptdarsteller einer mir unbekannten Vorstellung zu sein beschlich mich zusehends.

Aus dem tiefen Blau unter mir bewegte sich ganz leicht, ja fast unbeschwert ein Umriss, der sich anscheinend für nichts interessierte, oder für etwas, das ich nicht sehen konnte. War es der Hai, der hier vor Jahren blutige Geschichte geschrieben hatte, mit großem Aufwand gejagt, aber nie gefangen wurde? Ich blieb erstarrt, wollte aber aus der Situation heraus kommen. Wollte so schnell es ging wieder an Land. Überrascht trieb es mich plötzlich an die Oberfläche, von wo ich den Strand in einiger Entfernung sehen konnte. Auf dem Weg dorthin, den ich nur mit äußerster Kraftanstrengung zu bewältigen versuchte, hätte ich die verräterische Dreiecksflosse neben mir fast berühren können. Er war mir gefolgt! Ortete meine Angst durch seine empfindlichen Sensoren, und interessierte sich für mich, war aber noch unschlüssig, ob er sich mit seiner messerscharfen Haut zuvor an mir reiben sollte. Er hatte Zeit sich ausschließlich mit mir, dem zappligen Wesen zu beschäftigen, während sie mir unter den Händen zerrann.

Dass ich bereits sehr nah am Riff war, mich aber an der Wasseroberfläche befand, bemerkte ich erst im Moment des Schmerzes. Mit dem Knie musste ich mich an den scharfen Korallen verletzt haben. Im hellen Meeresgrün zogen plötzlich dunkle Fäden um mich.

Fäden von Blut.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Ja