Text 533/645

Titel
Stäudl
Der Text
Wenn er über den Berg kam war es schon ein Weilchen her, seit er das letzte Mal diesen Weg nahm zu uns. Sein Ziel waren nicht wir, sondern eine Art Monstrum, das im Gasthaus in einer Ecke ruhte wie ein eingegrabener Frosch. Ab und an sah man nach diesem schwarz lackierten Tier, ob es noch lebte. Seine Stimme sich inzwischen vielleicht verändert hatte und heiser klang.

Stäudl kam stets zu Fuß und hatte einen Werkzeugkoffer dabei aus rissigem Leder, das den Krieg überlebt hatte und den davor. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und roch nach einer vergessenen Jacke. Meine wachsamen Kinderaugen erfassten ihn in seiner Gesamtheit, und schnell war ich hinter ihm her, wenn er an unserm Haus vorbei schritt und Kurs auf das Haus der Großeltern zuhielt, wo das schwarze Monstrum wartete.

Nach der kurzen Begrüßung, die er mit ungeheuerlich großen Händen vornahm, wandte er sich schnell dem schwarzen Klavier zu, stellte seinen Lederkoffer mit den großen Händen behutsam auf einen Tisch und öffnete ihn vor meinen Augen. Dabei lächelte er mich an. Schon beim Öffnen sah ich Dinge, die ich keinem vernünftigen Zweck zuordnen konnte. Gebogene Schlüssel. Große, mittlere und kleine. Und etwas aus gebogenem Eisen, das er auf der Tischkante anschlug, und es an eines seiner unglaublich großen Ohren hielt. Er lauschte auf ein geheimnisvolles Summen, das aus dem Eisen kam.

Seine erste Tastenreise auf dem mittlerweile geöffnetem Klavier, das seine schwarzweißen Zähne zeigte, galt nur einer der vielen Tasten. Und selbst ich konnte hören, dass es heiser klang. Inzwischen hatte er flink das Gehäuse des Kastens geöffnet, Dinge zur Seite gelegt und das Innere des Geheimnisses bloßgelegt, als ginge es um eine Obduktion. Staunend blickte ich auf Stränge, die diagonal, ähnlich wie Fischgräten, gespannt waren. Da gab es noch Hämmer, die filzbespannt darüber ausharrten. Fußhebel, die den Rahmen bewegten, und alles war dermaßen spannend zu beobachten, dass ich darüber die Zeit vergaß.

Stäudl werkelte mit seinen Instrumenten, lauschte, zog mit Schlüsseln nach, bis sich ein Ton einstellte, der sein Wohlwollen fand. Vom tiefsten bis zum höchsten Ton behandelte er jeden gleich, widmete sich seiner Bedeutung und gab nicht nach, bis er in einer Reihe richtiger Töne stand wie ein Soldat beim Appell. Das Schinkenbrot, welches ihm zur Stärkung seiner Hörkraft hingestellt wurde, berührte er niemals, nicht einmal das Getränk.

Zu sehr vertieft war er, und lächelte erst wieder, als er sich nach einer schwachen Stunde erstmals mit Schwung auf den runden Klavierhocker setzte, den ich immer als Karussell missbrauchte.

Und dann geschah etwas Unerhörtes. Ohne auch nur einmal etwas zu korrigieren, glitten seine knorrigen Finger über das matte Elfenbein, flogen dahin und ließen mich tatsächlich still sitzen. Klassik war mir kein Begriff, nicht Mozart, noch Beethoven, nur Stäudl vermochte mich still werden zu lassen. Ihn selbst hatte es längst fort getrieben. Er war in diesen seltenen Momenten entwichen. Wohin nur?

Ich bekam ein Tätscheln seiner Hand ab, hörte den Dank der Großeltern und sah ihm nach, wie er mit seinem Lederkoffer auf der Straße hinter dem Berg verschwand wie ein letzter Ton, dem er wehmütig hinterher lauschte.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch