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Titel
Süsskirschen
Der Text
Wenn es so etwas wie einen Star gab im Garten, so stand der ganz unbescheiden nah am Haus, am Anbau, dessen Dach den Kuhstall beschützte. Es war ein Kirschbaum, der eine Einheit wurde mit den roten Ziegeln des Daches, mit den tiefroten alternden Klinkern des Anbaus. Manche seiner Äste ragten bereits aufs Dach. Seinen Stamm konnte nicht mal ein Mann umfassen.

Blattlos im Winter ließ er es zu, dass der Schnee eine Weile auf seinen Ästen liegen durfte, von denen ab und an ein Fähnchen zu Boden fiel, wenn ein Vogel darauf landete. Sonst blieb alles still um ihn herum. Man hatte keinen Grund zu ihm aufzuschauen, er gehörte zu der Gruppe der Wartenden, wie an einer Haltestelle irgendwo.

Wer sehr genau hinschaute, bemerkte im Vorfrühling an den dünnen Zweigen die Knospen späterer Blüten. Ameisen, die im Sommer an ihm hoch krabbelten, blieben unsichtbar. Er war ein wahrer Verwandlungskünstler. Je mehr Frühling seine Finger vorschob, desto mehr Knospen gab es. Kleine Warzen an dürrem Geäst. Die Unscheinbarkeit endete plötzlich in einer einzigen Nacht. Im unerwartet mildem Regen platze es aus ihm heraus. In Weiß, das einer Hochzeit würdig gewesen wäre, stand er da und ließ sich bestaunen.

In diesen Tagen erklärten wir Kinder ihn zum Kletterbaum, lehnten die Holzleiter an ihn, und stiegen bis oben, ohne Angst vor dem Himmel, der durch sein weißes Kleid schien. Das Gedröhne der Bienen und Hummeln durchdrang uns, und keiner wollte schnell wieder seinen Platz verlassen über die Äste, über die Leiter.

Der Wind verwehte seine Werbekampagne bald, und flaschengrüne Kirschen reiften. In den Sommerferien war es soweit. Aus ihnen wurden Süßkirschen die, prall aufgebläht, so groß wie Mirabellen waren und jene Süße hielten, die man zu den Kindheitserlebnissen hinzufügen konnte. Zu Eis im Schwimmbad und Wackelpudding, Himbeeren in der Milchkanne, und Blaubeeren etwas später von der Hand in den Mund.

Drosseln kamen, und Stare in Schwärmen. Sie plünderten selbst dann, wenn wir, in den Ästen balancierend, die Eimer an Schinkenhaken hängend füllten.

Und wenn ich noch einmal auf den Künstler zu sprechen kommen darf, wenn er abgerupft und seiner Schätze beraubt dem Herbst, dem Winter entgegen döste. Immer hatte ich das Gefühl, dass er die Zeit nutzte, um sich vorzubereiten. Auf eine, auf seine Zeit.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch