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Titel
Anne
Der Text
Anne

Du hast geschrieben. In Deinem Tagebuch nicht nur festgehalten, welche Enge Dich und alle Anwesenden auf der kleinen Insel des Amsterdamer Verstecks bewegte, bedrückte, und hoffen ließ, dass der Alptraum der Tage dieser Zeit vorbei gehen möge. Darüber weit hinaus hieltest Du Zwiesprache zu Deiner Freundin Kitty, der Name des Tagebuchs, das man dir schenkte und so erfunden wurde, dass es Dir zuhören musste. Die anderen hatten jeder für sich ihre Probleme, Kitty hörte zu. Dein Tagebuch ist erhalten geblieben, Deine Worte, jedes für sich ein verzweifeltes Dokument des Scheiterns einer Illusion, dass das Gute im Menschen am Ende immer siegen würde. In Deinem Fall, wie in Millionen anderer Fälle tat es das nicht. Das Gute wurde zum Schweigen gebracht, das Laute voller Lügen und Intoleranz bestimmte die Zeit. Die Zeit, die Dir am Ende fehlen würde, wo Du doch am Anfang Deines Lebens standest.

Ihr wurdet verraten von Menschen, denen die Belohnung für Verrat über der des Lebens stand. Für einen Moment der Genugtuung und dem allgemein verblendeten Trend zu folgen, der in der Rasse, seiner Religion, und ihrer Verfolgung seine Wurzeln gedeihen ließ. Es gab von Anfang an das falsche Bild der Unterschiedlichkeit im Denken und Handeln statt der Tatsache, dass alle Menschen Menschen sind. Aus Deinem Dachfenster sahst Du nur einen winzigen Ausschnitt des Himmels, schnell vorbei ziehende Wolken, deren Freiheit Du gern selbst gehabt hättest. Welche Kraft mag in Dir gesteckt haben, welche Rebellion gegen das Unrecht, das in solche verzweifelte Lage geführt hatte? Für den Einzelnen war es längst zu spät etwas daran zu ändern. Die Zeit dafür war abgelaufen wie die Körner Sand in einer Sanduhr. Lautlos vom Geschrei der Massen übertönt.

Deine Aufzeichnungen las ich, als ich in Deinem Alter war. Den geheim gehaltenen Ort in Amsterdam besuchte ich zwei Mal seither. Es herrschte ein dichtes Gedränge zahlreicher Besucher, die über knarrende Holzstufen in winzig kleine Räume schauten. Räume, die damals die Grenzen Deiner Welt bedeuteten. Die von Dir beschriebenen hatten ein ganz anderes Ausmaß. Das eines jungen Mädchens, deren Träume am Anfang einer Nacht begannen. Aus der absoluten Stille heraus, die tags zwingend erforderlich war, um nicht alle zu verraten, entstanden jene eng beschriebenen Seiten, die Dich überlebten. Als Tagebuch gedacht, aus dem ein Zeugnis wurde. Eines, das auch heute und gerade heute ins Stammbuch jeder Gesellschaft geschrieben stehen müsste, die Menschen guten Willens sind, um andere zu tolerieren, Menschsein zuzulassen in allen Facetten. Damit sie nicht am Anfang einer Nacht stehen, sondern ins helle freiheitliche Leben führen.

Vielleicht damit sie es, wie Du es einmal in etwa ausdrücktest, selbst in größter Bedrängnis noch voller Zuversicht erfahren: "Wenn ich die Wolken durch das kleine Dachfenster dahinziehen sehe, dürfte ich nicht traurig sein."
Typ
Weisheit
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein