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Titel
Anmerkungen zum ersten Schultag
Der Text
Wer erinnert sich noch an den ersten Schultag? Nicht an den, wo Fotos gemacht wurden. Fotos von kleinen Menschen, die große spitze Tüten tapfer lächelnd umklammerten mit Inhalten, die entweder sofort aufgegessen wurden oder bald vergessen waren. Nein, an den wirklich ersten Schultag!

Erste Stunde Rechnen, stand auf dem Plan, den noch die Mama schrieb, und der jetzt da hing, wo sonst der Kalender hing. Es war ein Freitag. Geschickt, da am nächsten Tag schon wieder frei war und am übernächsten auch! So kam erst gar keiner auf die Idee, dass Schule nervt. Wer ahnte schon etwas von Montags bis Freitags? Wo man eben keine Salamander fangen konnte am frühen Morgen, oder den Schafen beim Fressen zuschauen, oder mit dem Hund den elektrischen Weidezaun überwinden...Jetzt stand da "Deutsch" oder "Rechnen" oder "Musik".

Und ich, man muss sich das mal vorstellen, war pummelig und der Kleinste in der dreißig köpfigen Klasse, was mir einen Platz in Reihe 2 direkt am Gang einbrachte. "Kommt doch mal nach Vorn!"
Gemeint waren die Reihen Eins bis Vier. "Und malt eine Null an die Tafel!" Inzwischen hatte Herr M., eine stattliche Gestalt in den Abmessungen unseres Kleiderschranks, einige Stückchen Kreide zur Verfügung gestellt. Jeder nahm sich einen Stummel und schritt das erste mal nach vorn. Die Tafel war graugrün und so groß wie eine Garagentür, an deren Seite ein trauriger Schwamm baumelte. Von Reihe 2 waren es nur wenige Schritte. Einige Künstler waren schon fertig, als ich die Gelegenheit ergriff selbst tätig zu werden. Wer immer Schultafeln konzipiert hat, wird nicht diejenigen im Sinn gehabt haben, die sie nicht erreichen können. Mir fehlten 25 cm, um die Null in Schiefer zu meißeln.

Am Ende der Übung eins, Tag eins stand ich allein, und lauschte auf das Gemurmel und unterdrückte Gespött der feinen Gesellschaft mit weiterer Armlänge. Die Kreide zwischen meinen Fingern war inzwischen feucht geworden, was aber wenig zur Lösung des physikalisch mathematischen Problems beitrug. Während Herr M. sicherlich interessante Studien über die Klasse an sich und mich im Besonderen anstellte, entschloss er sich endlich mir einen Stuhl zur Verfügung zu stellen, auf den ich nur all zu gern stieg, um meine 0 über alle anderen zu stellen.

Sie war sogar unsichtbar, was ich schon wusste, da ich mit Kreide auf regennasser Straße schon Erfahrung hatte, erblühte aber bereits, als ich noch auf dem Weg zum Platz war.

Im Laufe der Schulzeit bekam ich täglich Schulbrote mit einer abwechslungsreichen Auflage, die der Geheimhaltung unterliegt. Sie brachten mich letztlich dazu zu wachsen, und zeitweise sogar die richtigen Lösungen zu finden. Manchmal half auch die Faust, wenn einer zu laut über mich lachte. Das machte ich dann auf dem Heimweg ohne Zeugen oder Stuhl. Ganz in meiner Reichweite, aber immer erfolgreich.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch