Text 282/624

Titel
Erzähl mir vom Frühling in der Stadt
Der Text
Woran willst du sehen, dass Frühling wird in der Stadt? Wo sie doch alle Wege und Wiesen geteert, oder bebaut hat, wo es Parkverbote und viele andere Verbote gibt, wo Ordnungsämter für Ordnung sorgen und Strafen aussprechen gegen den, der auch nur einen Moment hält? Sag mir, woran du den Frühling erkennen willst, und nicht doch den Winter meinst, mit ein paar lauen Lüftchen? Haben sich wirklich manche von diesem eigentümlichen Gefühl, das nur vom Frühling stammt, trotz der Pflastersteine, Brücken und Ampeln betäuben lassen?

Woran willst du sehen, dass Frühling wird, wenn die Tage voller Arbeit sind und die Abende aus erschöpftem Schweigen? Erzähl mir von ihm, beschreibe sein Stadtgesicht zwischen den Fugen, in den wenigen Nischen unbebauten Raumes. Schildere mir das Wunder eines Straßenbaumes, der im Salz nach seinen Wurzeln schaut und voll Sorge an seine Krone denkt. Er blüht, sagst du, du musst nur sehen wie er blüht.

Nimm mich ein wenig mit in einer Nacht, in der der warme Regen fällt, das Pflaster Lakritz geschwärzt nach alten Kleidern riecht, das Licht der Kneipe bis zur Knospe gleich neben der Eingangstür fällt, wo die Kippen landen. Geht das mit dem Frühling in der Stadt, oder ist es nur ein Gefühl, das nicht verboten werden kann, ähnlich dem auf dem Maidan nicht weit? Ist nicht ein Widerspruch in Haus und Garage, in aufgetürmten Stockwerken des Übereinanders und seltenen Miteinanders, und kann man vom zwölften Stock aus den Frühling sehen?

Vielleicht sollte man ihn in sich lassen. Ein tiefer Zug in alle Lungenbläschen, der ein Lächeln erzeugt. Die Jahreszeit ist doch egal, Mai wäre schön. Manchmal schon März.

Ein Fenster voller Freiheit rahmenfern, das wäre was. Dann käme ich in die Stadt und würde daran glauben, dass sie es kann. Nicht besser als ein Feldweg, ein versteckter Sumpf, aber bemerkenswert.

Selbst aus dem zwölften Stock.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch