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Titel
Erstes Lehrjahr
Der Text
Da sitzt man jahrelang auf der kalten Schulbank und wird plötzlich nach vorn gerufen, um das letzte Zeugnis entgegen zu nehmen. Vorläufig jedenfalls. Auf die Frage: "Was wilstn werdn?" Fällt dir aber auch gar nix ein, nicht mal nix. Deine Eltern müssen sich an frühe Tage erinnert haben, als du länger als fünf Minuten mit einem Schraubenschlüssel versucht hast aus deinem Laufstall auszubrechen. Daher auch wohl ihre Intensität, dich in eine Schlosserlehre zu zwängen.

In der Lehrwerkstatt sind außer dir noch mehr von deiner Sorte, die auf irgend eine Weise ausbrechen wollen. Raus aus dem Bett, der Wohnung, dem Haus, dem Ort. Die Welt soll groß sein, sagt man. Wieder sitzt du in der Schulbank. Diesmal mit blauen Klamotten. Du lernst etwas von Winkeln und Metallen, wie sie heiß reagieren oder kalt, bist dabei sie nach Anweisung zu bearbeiten mit Feile. Genau müssen die Maße stimmen, sehr genau.

Dann kommt der Tag der Praxis.

Der Meister nimmt dich mit, zur Unterstützung einer wichtigen Arbeit, die an einem Balkon ausgeführt werden soll. Zweiter Stock, feuerverzinktes Ziergitter mit Weinranken, zwei Meter lang, 60 hoch. Ihr seid zu Zweit. Der Kran hat das Kunstwerk hoch gehievt und es vorsichtig auf den Boden gesetzt. Du sollst es festhalten, während der Boss die Markierungen auf dem Boden vornimmt, wo die Löcher gebohrt werden sollen für die Halterung. Der Boss markiert, du hältst es fest.

Er sagt: "Das kann jetzt weg!"

Und du bringst es fertig, es vom Balkon zu kippen. Kann ja weg..... Von dem verzinkten Weinlaub, den kunstvollen Reben ist zwei Stock tiefer nicht mehr viel zu sehen.

Scheiß Hanglage.

Die Reaktion des Chefs ist mir nicht übermittelt worden, jedoch soll es sich um eine wahre Begebenheit gehandelt haben.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Ja