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Titel
Everglades
Der Text
Ich frage unseren Klavierstimmer, ob er denn schon seinen Jahresurlaub hinter sich hat. Hat er, sagt er. Und das Klavierstimmen hat er auch schon hinter sich. Bevor er geht, will er aber noch etwas loswerden. "Da fragen Sie was," sagt er und erzählt etwas aus seinem Urlaub.

"Wir waren mit vier Harleys und unseren Frauen unterwegs in Amerika. Auf dem Programm stand auch eine Fahrt durch die Everglades. Am nächsten frühen Morgen sollte es los gehen. Im Grunde hatte sich keiner sonderlich um diese Fahrt gekümmert, so dass wir nach Beendigung des Frühstücks die Karte ausbreiteten und die Tagestour festlegten. Von den schnurgeraden Highways führte eine Straße durch die Sümpfe, und verkürzte den normalen Weg um gut eine Stunde. Anfangs war sie ähnlich einer Landstraße gezeichnet, dann aber mit Punkten markiert, was soviel heißt wie unbefestigt.

Zu Beginn war sie gut zu befahren und breit, dann wurde sie aber immer enger, bevor sie nur noch teilweise als Straße erkennbar war. Solange wir in Bewegung waren, Horst machte den Anführer, ging alles prima mit den schweren Maschinen. Plötzlich rief er mich nach vorn, dass ich die Kolonne anführen sollte, er wäre jetzt genug als Erster gefahren. Ich schaute mir die ersten hundert Meter an, bis der Weg hinter Büschen verschwand. Etwas beunruhigte mich dabei. Es lag ein großer Baumstamm quer über der Straße. Zum Zurückfahren hätten wir die Maschinen wenden müssen, was aber wegen des Sumpfes nicht möglich war.

Beim zweiten Hinsehen war der Baumstamm verschwunden, und das Wasser kräuselte sich neben der Straße. "Alligator!" Rief einer, "und da hinten noch zwei!" Ich holte meine Kamera aus dem Rucksack und begann Fotos zu machen. Horst warf ein paar Marshmallows ins Wasser und betätigte die Hupe. Wie blöd kann man nur sein, dachte ich. Bisher hatte noch keiner von uns Erfahrungen mit Alligatoren. Ich suchte per Kamera nach meinen beiden Motiven in einiger Entfernung und stellte fest, dass nur noch ein Alligator dort saß....

Noch während ich per Kamera weiter suchte, mittlerweile sogar das sumpfige Wasser vor mir, entdeckte ich die Schnauze des Tieres vor meinen Füßen im Wasser. Ich drückte auf den Auslöser und machte das Foto meines Lebens, da auch meine Schuhe mit zu sehen waren. Vielleicht war es das Aufheulen des Motors und die Bewegung, die durch das Anfahren aller Harleys plötzlich entstand, was das Tier von einem Angriff abhielt. Nach schier unendlichen Minuten und erzwungenen Stopps durch weitere "Baumstämme", gerieten wir Schweiß gebadet wieder auf befestigten Untergrund. Im nächsten Kentucky erzählten wir dem Barmenschen von unserer Abkürzung. "Don´t do it again". Seine Empfehlung.

Später schickte ich das Foto an eine Zeitschrift, die es aber nicht veröffentlichte.

Hier endet sein Bericht.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Ja