Text 269/653

Titel
Draußen
Der Text
Ich erwachte neben ihm. Er hatte seine Schuhe ausgezogen, hatte seine Socken mit den durchgetretenen Maschen anbehalten und seinen Mantel, der alles was darunter war gnädig bedeckte, wie erster Schnee vor dem Frost ein Feld. Seinen Mantel, der Zeuge war und zu wenig zum Erwärmen, Ankläger und Richter aus ein und demselben Stoff. Und die Verteidigung bestand aus nur einem einzigen Knopf, der es vergaß als Letzter von ihm abzufallen. Der Mantel hatte im Laufe der Zeit die Farbe seines Denkens, dann die seiner Stadt, und jetzt die seiner Überreste angenommen.

Die Nächte waren bereits kalt und ungemütlich. Das Leben hatte sich spätestens gegen 10 Uhr am Abend hinter die Scheiben der Straße reihenweise zurückgezogen wie auf ein Kommando, hatte die Rollläden herunter gelassen und begonnen, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Es fiel etwas warmes Licht auf ein unbestelltes Feld, das nie grünte, das verkümmerte Früchte trug von Anbeginn, und wenn einer Dünger warf, dann fraßen sie die Tauben. Ein paar Zeitschriftenblätter, wie Der Asphalt, hatten einen Namen für die Namenlosen gefunden, hatten die Müden in den S- und U Bahnen gelangweilt, die das Angesprochene gekonnt übersahen. Das Licht aus den unzähligen Fenstern schien auf etwas, das nicht lohnte das Wenige zu erhellen, was draußen auf der nackten Straße schwach flimmerte. Und niemand bemerkte, dass es mehr wurde.

Halt!

Die Straße war nicht nackt. Immerhin hatte sie eine Bank, auf der ich erwachte und ihn neben mir fand. Ich versuchte mich an das letzte Gespräch mit ihm zu erinnern, bevor ich mich zwischen die Holzsparren legte, die nach einer Zeit Streifen auf die Haut färbten. Es war eine Haut, die kein Wasser spürte und kein Licht, die nichts anders konnte als zu frieren. Darin allerdings war sie Meister. Außer der Bank gab es in der Nähe der Haut einen Mülleimer, aus dem er sich, wenn es ging, unbemerkt derer, die in der Nähe waren, etwas heraus suchte. Eine alte Zeitung, eine verlogene Schlagzeile, etwas Aufschwung, ein Hauch Angela, einen Holzstiel zum Sonntag, an dem noch ein Stück Fett hing vom Spieß, ein Rest von Sauce, der einer Übermacht von Hunger gegenüberstand, gegen die das Fett regelmäßig verlor.

Was sagte er zu mir bevor ich einschlief? Wie war das Gespräch? Verlief es typisch als Streit, der je nach Alkoholgenuss heftig war und immer in Vorwürfen endete, oder gab es goldene Worte?

Er kam einmal darauf Worte in Gold zu färben, sie hinein zu tauchen in eine schimmernde, unbezahlbare Glückseligkeit, die Schmerzen durch Geld, Hunger durch Teilen und die Hoffnung durch Sehnsucht erfüllt sah, die so etwas wie Liebe, einer längst verstorbenen Einrichtung hinter den Scheiben mit dem warmen Licht umfassen konnte, nur mit einem Blick in meine Augen und ein paar wahren Sätzen.

Vor der Bank arbeitete er in einer Bank. Er überschaute das Leid und Elend Anderer anhand der Kontoauszüge, der Auszüge aus etwas Bisherigem leitend in etwas Imaginäres. Dramen, Haushaltsauflösungen, Pfändungen, der Eingang von etwas Geld, das wohl von etwas Verkauftem war. Das Ausbleiben von Unterhaltszahlungen verwirrte ihn manchmal, wenn er die Bilder, die es auslöste nicht überschlafen konnte, wie er es nannte.

Jetzt lag er auf dem Rücken, hatte den Kopf etwas seitwärts gedreht und Glück gehabt, nicht wie die Nacht zuvor von der Bank gefallen zu sein, von der er doch längst gefallen war. Es war das Unglück, das in Wahrheit größer war als in seinen schlimmsten Träumen. Es war groß genug noch Platz neben ihm zu finden, sich an ihn zu halten und im Gegensatz zu seinen Freunden bei ihm zu bleiben.

Sie raubten ihn aus regelmäßig, wie er mir mal sagte. Immer des Nachts. Ich fragte ihn, was es denn zu holen gäbe bei ihm, und er gab mir das Bild. Es zeigte eine Frau mit abendblonden Haaren. In ihren Augen ein ganzer Tag. Es zeigte sie zusammen mit dem Kind auf der Schaukel, und da der Autofokus funktionierte, ließ es das Kindgesicht in Beiden sein. In Wahrheit war es in Allem. Es zeigte ihn, als er noch keinen Mantel trug, noch bei der Bank, nicht neben ihr. Es zeigte so viel eines guten Momentes auf kleinem Raum.

Mit goldenen Worten gab er mir dieses Bild, vertraute, dass ich es nicht zerriss. Ich versprach, es ihm wieder zu geben, nicht zu zerreißen, um ihm klar zu machen, dass es von Gestern ist, was so leicht vergänglich wie ein verwehtes Stück Wäsche an der Leine. "Die Klammern sind es, sag ich dir, die Klammern", doch er hört nur den Wind.

Das Bild war nicht reanimierbar, nur aus Papier. Ein alter Schein Hochglanz. An keiner Börse würde er gehandelt, nicht der des Lebens und schon nicht des Liebseins allgemein. Eine kurze Belichtungszeit für eine Offenbarung, jetzt an einem Montag im November. Es war mit Selbstauslöser -

Hier brachen die goldenen Worte ab. In einer ruppigen Bewegung forderte er das Bild von mir zurück.

"Gib her, knurrte er, gib es her!"

Als es laut wurde auf der Bank erschrak er. Es war nicht, weil er die Tageszeit nicht mehr einzuschätzen vermochte, nicht die Schlagzeile in der Zeitung, die Insidergeschäfte ansprach, und nicht das warme Licht, das auf den sich ausbreitenden Frost auf den Boden unter den Bänken der Stadt fiel, jedoch ohne ihn zu erreichen.

Es war einzig die Erkenntnis, mit sich selbst gesprochen zu haben in der Annahme, dass da noch jemand ist. In der Annahme, dass da noch jemand ist, jemand ist. In der Annahme, da könnte noch jemand sein.....
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch